Keine fünf Minuten sp?ter waren sie hinuntergerannt, nur damit sie alleine wieder nach oben lief und noch einmal nachschaute, dass wirklich alle Ger?te ausgeschaltet waren. Dann packte sie noch schnell ihren Laptop ein, mit welchem sie über das Wochenende weiter an ihrer Hausarbeit schreiben wollte. Es lag unter einigen Stapeln Papiere, daneben eine leere Kaffeetasse, welche sie vergessen hatte zu spülen. Das würde sie machen, wenn sie wieder da w?re.
Khai sa? am Beifahrersitz ihres alten Autos, die Tür ge?ffnet, um die stickige Hitze herauszulassen, welche sich unter der Morgensonne angestaut hat. Es wunderte Talisa immer wieder, wie er dieses Schloss der Beifahrerseite aufbekam, denn die Tür klemmte und Talisa hatte sie aufgegeben. Dann war Khai aufgetaucht und es irgendwie geschafft, sie zu ?ffnen. Gelangweilt stützte er den Kopf in die Hand, sein altes Handy lag achtlos am Armaturenbrett. Er sah nicht aus, als h?tte er gro?es Interesse, mit ihr zu kommen. Aber sie konnte ihn nicht alleine in der Wohnung lassen, w?hrend sie zum Klassentreffen ihrer alten Schule fuhr. Eigentlich wollte sie dort auch nicht hin, aber nach dem furchtbar schweren Jahr, welches sie beide hinter sich hatten, hoffte sie, dass etwas Abwechslung ihnen beiden guttun würde. Khai hatte Sommerferien und hatte dennoch nicht wirklich h?ufig die Wohnung verlassen. In der Schule schien er sich gut eingelebt zu haben. Auch seine Lehrer beschrieben ihn als ruhig, aufmerksam und zuverl?ssig. Seine Noten waren in Ordnung, wenn auch nicht überragend. Aber nachdem er von ihrem teilweise erfolgreichen Versuch mitbekommen hat, ein Teilstipendium für die Studiengebühren zu bekommen, gab er sich deutlich mehr Mühe. Es war seltsam gewesen, auf Klassentreffen zu gehen, Klassenarbeiten zu unterschreiben und mit Lehrern Gespr?che über ihren kleinen Bruder zu führen, den sie kaum kannte. Khai schien sich manchmal auch nicht wohl dabei zu fühlen. Stetig vorsichtige Blicke, gut überlegte Antworten und zurückhaltende Stille. Sie waren beide noch nicht wirklich in ihre neue Beziehung hineingewachsen, deren Entwicklung nie die notwendige Zeit bekommen hat, um zu gedeihen. Sie war auf einen Schlag der Erwachsene in seinem Leben, ausgestattet mit der Verantwortung, ihn auf das Leben vorzubereiten und zu erziehen. Und er musste auf einmal an einen halbwegs erwachsenen gewordenen Erwachsenen gew?hnen, auf diesen h?ren und sich anpassen, ohne überhaupt richtig zu wissen, wer seine gro?e Schwester eigentlich war.
?In Ordnung“, sagte sie au?er Atem und startete das Auto.
?Sicher, dass du nichts vergessen hast?“, fragte er vorsichtig.
?Natürlich nicht“, sagte sie so locker wie m?glich, ?Wir haben gestern dreimal nachgeschaut.“
?Soll ich vielleicht noch einmal nachschauen?“, fragte er, als sie langsam auf die Stra?e fuhren. Es fühlte sich an, als würde er die Fahrt vermeiden wollen.
?Was ist los?“, fragte sie und versuchte die Stimmung zu lockern, ?Angst vor etwas Wandern?“
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er die Lippen zusammenpresste, und es d?mmerte ihr. Wahrscheinlich hatte er wirklich Angst davor. Angst, dass sie ihn irgendwo aussetze. Ihn alleine zurücklie?. Aber sie würde niemals ihre Mutter sein. Sie k?nnte niemals jemanden in Stich lassen, der auf sie angewiesen war. Auch wenn sie kaum in der Lage war, der neuen Verantwortung gerecht zu werden, würde sie so lange durchhalten, bis sie es hinbekommen würde.
Nur noch ein halbes Jahr. Dann habe ich mehr Geld.
?Nur damit das klar ist“, sagte sie, ?Wir fahren nicht nach Tucsonville, damit ich dich vom Haus unserer Mutter aussetze. Genau genommen, kommen wir beide bei den Eltern meiner besten Freundin unter. Sie wei? Bescheid, dass wir zu zweit sind“, sagte sie l?chelnd, ?und sie freut sich darauf, uns beide wiederzusehen. Wei?t du noch? Die fr?hliche Blondine, welche unseren schottischen Akzent nachahmt, als w?re sie diejenige, dessen Vorfahren aus Europa kommen und nicht wir?“
Ein leichtes L?cheln stahl sich auf sein sonst so ernstes Gesicht. Riley war ein Sonnenschein und hat es geschafft, diesen ernsten kleinen Teenager zum Lachen zu bringen. Sie haben sich seit Monaten nicht gesehen und sie vermissten sie schmerzlich.
?Sie kann es besser als ich“, sagte Khai und Talisa lachte.
?Gie it laldy“, imitierte sie ihren eigenen verstorbenen Vater, ?Du bekommst es schon hin, wenn du alles gibst.“
?Bedeutet es nicht, sich zu prügeln?“, fragte Khai unsicher.
Sie lachte, auch wenn ihr für einen Moment nicht nach Lachen zumute war. Dass Khai etwas Schottisch konnte, zeigte mir, dass sein Vater ihm etwas beigebracht hat. Aber er wusste insgesamt genauso wenig wie sie. Keiner ihrer Elternteile hatte sich darum bemüht. Aber dass Khai ausgerechnet diese Assoziation damit verband, sorgte sie.
?Kannst du mir erz?hlen, wie das Wochenende ablaufen wird?“, fragte er. Ein Versuch, sich der Ungewissheit zu entziehen.
?Heute Abend kommen wir bei Riley’s Eltern an. Sie sind nebenbei diejenigen, die mich an diese Wohnung vermittelt haben. Ansonsten würden wir beide jetzt wahrscheinlich auf fünfzehn Quadratmetern aufeinander hocken. Wir wollen grillen und selbstgemachte Limonade trinken. Du wirst drei M?glichkeiten haben. Entweder eine Limo mit Himbeeren, eine mit Zitrone und Limette oder eine mit Blaubeeren. Wir beide werden eh alle durchprobieren müssen und anschlie?end die Beste küren. Sie haben jedes Mal so einen Wettbewerb am Laufen, welcher die beste macht. Bisher mussten Madeline und ich alleine urteilen, aber diesmal haben wir zum Glück dich dabei.“
Ein Stich ging ihr durch das Herz, als sie an Rileys glückliche kleine Familie dachte. Weder ihr noch Khai war dieses Glück verg?nnt gewesen. Dieser Gedanke war ein Zeichen, ihren Gedankengang zu stoppen. Jedes Mal, wenn sie den Weg nach Tucsonville anstie?, drohte sie in einem selbstzerst?rerischen elenden Strudel zu verenden. Wie in dem Tornado in ihrem Traum. Jedes Mal war sich danach ein anderer Mensch. Einer mit etwas mehr Finsternis in ihrem Inneren.
Erneut durchzuckte sie einen Schauer, als sie an die K?lte ihres K?rpers dachte. Ganz dunkel regte sich etwas in ihrem Kopf, dass sie sich erinnerte. Daran, wie sie ins eiskalte Wasser gedrückt wurde. Für ihr Immunsystem. Damit es st?rker wird und sie nicht die ganze Zeit so krank werde.
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?Talisa?“, fragte Khai. Ein Blick zu ihm und sie sah die Nervosit?t. Sie bog auf den Highway ab. Sie wohnten in einem Vorort von Denver, perfekt, um schnell herauszufahren. Nur die Fahrt zur Uni war furchtbar, aber das war auszuhalten.
Für einen Moment z?gerte sie, wusste nicht, ob sie lügen sollte oder nicht. Dachte dann an das letzte Jahr zurück, daran, wie sie beide vorsichtig umeinander geschlichen sind, versucht haben, einander nicht irgendwie zur Last zu fallen. Vielleicht war es an der Zeit, ehrlicher miteinander umzugehen?
?Ich hatte heute Nacht einen Albtraum“, sagte sie, ?Ich tr?ume immer von einem Tornado, welcher dabei ist, Tucsonville zu verschlingen. Und mir war echt kalt heute Nacht. In diesem Traum musste ich dann daran denken, wie Mom mich erzogen hat. Es war nicht sehr sch?n. Ich bin froh, dass du bei mir bist und nicht bei ihr.“
Seine grünen Augen wandten sich ab und er sah hinaus auf die Stra?e, die Hand in die alte Hose gekrallt, welche sie von ihrer lieben Nachbarin bekommen hatte, deren Kinder schon l?ngst aus dem Haus waren. Die Stimmung war mit einem Schlag auf dem Tiefpunkt und sie bereute ihr Vorgehen. Sie h?tte einfach bei Rileys glücklicher Welt bleiben sollen, an welcher sie ab und zu teilhaben durfte.
?Ich habe auch nicht vor, Mom das Wochenende über zu sehen. Sie wird es auch nicht wollen. Sobald ich mit dem Studium fertig bin, wird sie den Geldhahn zudrehen und mich nie wieder sehen wollen. Willst du sie sehen?“, fragte sie vorsichtig.
Er schüttelte den Kopf. ?Ich kenne sie ja nicht mal.“
Seine Stimme war belegt, aber er antwortete ihr ganz tapfer, klar und deutlich.
Talisas Augen hefteten sich auf die Autobahn. Sie brannten etwas und ein Klo? bildete sich in ihrem Hals. Mitleid mit sich selbst, weil sie diese Frau kannte und Mitleid mit ihm, weil das Einzige, was er von ihr kannte, die Wunde ihrer gnadenlosen Abweisung war.
?Auf alle F?lle“, fing sie weiter an, versuchte die aufsteigenden Tr?nen wegzuquatschen, ?würden wir am n?chsten Tag zu meiner alten Schule fahren. Am sp?ten Nachmittag. Bis dahin haben wir frei. Soll ich dir die Stadt zeigen? Wir k?nnten das alte George’s besuchen. Ich frage mich, ob das Café überhaupt noch steht. Oder wir k?nnten wandern gehen. Wenn du magst, k?nnen wir auch am n?chsten Tag Yellowstone besuchen, warst du schon mal da?“
Ein Kopfschütteln.
?Hast du Lust?“
Er z?gerte und sie hatte mal wieder keine Ahnung, was in seinem Kopf vor sich ging.
?Wei?t du was?“, fragte sie dann, setzte ihre gute Stimmung auf und ?ffnete die Fenster, ?Wir haben zehn Stunden Zeit, uns einen Plan zu überlegen. Nimm meinen Laptop, ich sollte noch etwas zum Surfen drauf haben. Such dir raus, worauf du Lust hast!“
Khai schreckte bei ihrer Aufforderung beinahe auf, drehte sich mit gro?en Augen nach dem Laptop um und suchte diesen im hinteren Sitz. Die frische Luft str?mte durch das Auto und der warme Luftzug fühlte sich wahnsinnig angenehm auf ihrer Haut an, füllte ihre Nase mit neuer Luft. Es war so ein lindernder Kontrast zu ihrem Traum.
Talisa beschleunigte. Vielleicht würden sie es auch in acht Stunden schaffen.
?Welchen Kanal soll ich anmachen?“, fragte sie durch das laute Ger?usch des Highways und schaltete das Radio an. Nachdem das erste Lied ein Countrysong war, teilte Khai ihr ganz schnell eine Alternative mit. Sie lachte über seine Emp?rung und er warf ihr ein vorsichtiges L?cheln zu. Seine gekr?uselten Haare wurden vom Wind erfasst.
?Wir waren noch nie gemeinsam unterwegs, oder?“, fragte sie. Er schüttelte den Kopf.
?Bist du sonst oft auf langen Reisen?“, fragt er. Eine Frage, welche wahrscheinlich eine Mischung aus vorsichtiger Neugierde und Aushorchen war. Wahrscheinlich wollte er wissen, wie sehr er ihr zur Last fiel.
?Nein. Ich habe es bisher nur einmal gemacht.“
Die R?te in ihren Wangen w?rmte sie mehr als die warme Luft. Ihre Augen huschten kurz von der Stra?e zu ihm. Er sah neugierig zurück, sah aber hastig weg, als er ihren Blick bemerkte.
?Sein Name ist Eric“, gestand sie vorsichtig und ihr Herz klopfte aufeinmal bis zum Hals, ?Ich hatte nicht so viel mit ihm zu tun. Er ist der Bruder von Madeline. Verrate ihr ja nicht, dass ich vielleicht etwas verschossen in ihn war.“
?Ich werde nichts verraten“, sagte er hastig, ?Versprochen. Ich kenne ihn ja nicht mal.“
Erneut musste sie lachen. ?In Ordnung.“
?Wart ihr zusammen oder so?“, fragte er und verstummte dann. Wahrscheinlich die Angst zu viel gefragt zu haben. Mutma?ungen. Sie konnte über jegliche seiner Reaktionen nur mutma?en.
?Wir waren nicht zusammen“, warf sie hastig ein, ?Ich glaube aber auch nicht, dass er das Interesse h?tte. Eric ist so lieb. Er ist immer für alle da. Er hat sowieso nie Interesse an mir gezeigt. Ich habe sowieso geh?rt, dass er auf Riley stand, und dann habe ich die Hoffnung aufgegeben und bin mit William zusammengekommen. Eric hat wahrscheinlich einfach Acht auf mich gegeben, nachdem meine erste Beziehung… nicht wirklich gut ausging. Ah, stimmt. Ihn werde ich ja auch sehen müssen.“
Auf einen Schlag war die Vorfreude getrübt. Seit sie die Stadt verlassen hatte, hatte sie mit William keinen Kontakt mehr gehabt. Zum Glück, denn er hatte sie in Tucsonville nicht in Ruhe gelassen. Riley und Madeline, die einzigen Menschen, von denen sie noch alle paar Monate etwas h?rte, haben ihr erz?hlt, wie er versucht hat herauszufinden, wo sie nach ihrem Auszug wohnte. Jedes Mal, wenn die Tür klingelte, beschlich sie die Angst, ihn anzutreffen. Jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, hatte sie Angst sein Gesicht zu sehen. Er war eine stetige Pr?senz, die in ihrem Schatten lebte.
?Ist William kein guter Mensch?“, fragte Khai vorsichtig.
Sie biss auf die Unterlippe, etwas zu fest, sodass sie kurz darauf einen metallischen Geschmack spürte. Mist, diese Angewohnheit war sie doch eigentlich losgeworden.
?Von allen Menschen, welche ich mir h?tte aussuchen k?nnen, habe ich den gew?hlt, der am ?hnlichsten unserer Mutter schien.“
?Oh“, antwortete Khai leise.
?Ja“, best?tigte sie und wusste, dass er das Ausma? ihrer Fehlentscheidung nur erahnen, aber nicht g?nzlich verstehen konnte. William hatte das Ende der Beziehung nicht akzeptiert. Und wenn Eric nicht da gewesen w?re, dann wüsste sie nicht, was aus ihr geworden w?re. Eric war ein strahlender Ritter. Er passte perfekt zu Riley, dem Sonnenschein von Tucsonville. Und obwohl sie ihre beste Freundin so sehr liebe, beneidete sie diese auch. Sie würde auch gerne bedingungslos so viel Liebe erhalten. Von Eltern oder von Freunden oder von… irgendjemanden.