Etienne sa? am Wohnzimmertisch und beobachtete vorsichtig Tatinne, welche immer wieder auf die hübsch verzierte Uhr an ihrem Arm blickte. Sie war sich sicher, dass Tatinne nicht ebenfalls auf Raffael wartete. Aber sie schien selten so unruhig zu sein. Sie so zu sehen, erfüllte Etienne ebenfalls mit Unruhe.
?Wartest du auf etwas?“, fragte Etienne. Catjill lag auf ihrem Scho?. Er war die Abende über sehr anh?nglich gewesen, w?hrend er ihr zeitgleich zu zeigen versuchte, wie froh er war, Etienne für den Tag über los zu sein. Sie streichelte seinen Kopf und er blieb ruhig liegen. Als sie ihm gesagt hatte, dass er auch den Abend über allein bleiben würde, schien er nicht sehr glücklich gewesen zu sein. Aber erstaunlicherweise verstand er sich sehr gut mit Tatinne und hatte dies leichter akzeptiert, als die Tage zuvor.
?Ja“, sagte Tatinne und bl?tterte weiter in der Zeitschrift. Es schien ihr nichts auszumachen, dass sie ihre Nervosit?t vor Etienne zeigte.
?Ein Besucher?“, fragte Etienne weiter nach.
?So etwas in der Art.“
Sie gab ihr noch immer nichts, was ihr Einsicht geben würde.
Etienne lehnte sich zurück. Die Titelseite der Zeitung, in welcher Tatinne bl?tterte, hatte eine Stellungnahme von verschiedenen Menschen aus den Provinzen. Etienne kannte sie nicht, aber der Name Eldan kam ihr von den Vortagen bekannt vor. Bianca hatte ihn genannt. Eine weitere Person hatte Levine als Nachnamen, also ging sie davon aus, dass es ein Verwandter von Elias war. Ihre Gedanken kreisten schon eine Weile um ihn. Er und Meng waren den Tag über absolut nicht zug?nglich gewesen, als w?re eine unüberwindbare Mauer um sie herum aufgebaut. Sie waren in den Pausen, begleitet von ihren Verbündeten, verschwunden und genauso war es am Abend gewesen, als sie erneut schnell gegangen waren. Etienne hatte daraufhin beschlossen, Catjill in der n?chsten Woche wieder einzuschalten. Die vergangenen paar Tage ohne seine Pr?senz sollten genug sein, dass seine Magie wieder in den Vordergrund rücken und die Zeugen seiner Macht sich an die Darbietung kaum erinnern würden. So verpflichtet er war, ihr bei der Suche nach den Steinen zu helfen, würde sie ihn dazu nutzen, ihr eine Chance zu geben, mit den entsprechenden Menschen in Kontakt zu treten. Wie bei Meta würde er ihr die M?glichkeiten bieten und es lag an ihr, sie zu nutzen.
Aber unabh?ngig von dem Ganzen, freute Etienne sich auf das Wochenende. Sie würde die Zeit nutzen, um sich auszuruhen, die Wunden verheilen zu lassen und sich neu zu sortieren. Sie konnte es kaum erwarten, etwas durchzuatmen. Nun, wo die Pause in Sicht war, spürte sie die Müdigkeit sich in ihr ausbreiten. Am liebsten w?re sie ins Bett, h?tte den Rest des Tages genutzt, um zu schlafen, sich auszuruhen und ihre Wunden verheilen zu lassen. Stattdessen sa? sie hier, war nervlich und k?rperlich angeschlagen, war ersch?pft und fühlte sich bedroht, denn in ihrem Kopf geisterte nur die Fragen, wer sie zu verfluchen versucht hat. Ob sie und Raffael zusammenarbeiteten oder ob jemand anderes Bianca informierte und ob es nur dummes Gerede ihrerseits war oder ob sie wirklich so weit ging, sie zu verfluchen.
Als eine tiefe Glocke die Ankunft eines Besuchers ankündigte, sprang Tatinne auf und ging hinunter. Etienne blieb sitzen und sah ihr hinterher. Es konnte sich nicht um Raffael handeln, denn dieser würde einfach eintreten.
Sie war neugierig, was es war, auf das Tatinne wartete. Oder wer. Sie konnte sich aber nicht vorstellen, dass eine Person Tatinne so nerv?s machen würde. Etienne blieb jedoch sitzen. Sie wollte noch etwas Kraft sch?pfen, bevor sie in den n?chsten Kampf gehen würde. Auch Biancas Worte über Raffael und Elias hingen ihr noch im Kopf und sie war fest entschlossen herauszufinden, was da vorgefallen war und ob sie irgendwas davon als Starthilfe für die Suche nach dem n?chsten Stein nutzen konnte. Besonders galt es herauszufinden, ob Raffael oder einer seiner Verbündeten Bianca von dem Stein erz?hlt hatte. Und wenn ja, dann musste sie herausfinden, ob er auch mit dem Fluch etwas zu tun hat. Dieser war das deutlich gr??ere Problem. Die Hemmschwelle, einen zu nutzen, der deutlich schlimmer war, war nie sonderlich gro?. Etienne musste für ihre Sicherheit herausfinden, wer alles an ihm beteiligt war. Schon wieder kreisten ihre Gedanken darum. Stunde für Stunde, Frage für Frage. Es zeigte ihr, wie müde sie eigentlich war. Die Pause am n?chsten Tag würde ihr helfen.
Als sie Schritte vernahm, welche die Treppe nach oben gingen, war sie überrascht, Raffael zu sehen.
Er sah neugierig zu ihr, ?Was geht hier vor sich?“
Sie unterdrückte den Impuls, mit den Schultern zu zucken. Die Schmerzmittel hatten schon lange nachgelassen.
Er hatte etwas Unschuldiges an seinem Auftreten, wie er in der Küche stand und neugierig zurück zu der Treppe blickte. Doch schlagartig dachte sie wieder an den ersten Tag in Calisteo und Wut auf sich selbst stieg in ihr auf. Sie durfte ihn nicht untersch?tzen, nur weil er sich in den Tagen danach als hilfsbereit und entgegenkommend gezeigt hat. Erst recht jetzt nicht, wo er wom?glich mitunter dafür verantwortlich war, ihr einen Fluch an den Kopf zu werfen. Fluchweber… oh Etienne kannte sie nur zu gut. Verlogen und hinterh?ltig, immer dabei, die Wahrheit und die Lüge zu einer neuen Realit?t zu verdrehen. Raffael in der Küche zu sehen, an dem Ort, wo er sie reingelegt hatte, lie? sie daran zweifeln, ob sie ihn gut genug einsch?tzen k?nnte. Was, wenn sie erneut auf ihn hereinfiel, sich in Sicherheit wog und er lenkte sie nur ab, damit jemand anderes ihren Geist angreifen konnte? Er schien nicht jemand zu sein, der das tun würde, aber genau hier lag das Problem. Fluchweber oder ihre Anh?nger, die Compagnons, schienen nie so zu sein.
?Ich habe keine Ahnung“, antwortete sie ihm wahrheitsgem?? und betrachtete seine Erscheinung. Sie wollte schauen, ob sie an ihm Waffen ausmachen k?nnte, oder irgendetwas anderes, irgendwas, was ihr Aufschluss geben k?nnte. Doch sobald ihr Blick auf seinen Pullover fiel, welcher durch seine offene Jacke zu sehen war, wurde sie abgelenkt. Sie konnte nicht g?nzlich lesen, was da stand. Aber eine Beleidigung war auf alle F?lle eingestrickt, so viel wusste sie.
Etienne hatte keine Ahnung von Kleidung, auch wenn es sie manchmal interessierte, wie Menschen dazu kamen, bestimmte Muster und Motive zu kreieren, welche andere so sehr liebten, dass sie bereit waren, ihren ganzen Kleiderschrank damit zu füllen. Sie wusste, dass Tatinne mit ihrer Kleidung Schlachten austragen konnte und in jeder sozialen Interaktion ihr Aussehen zu nutzen wusste, um das zu bekommen, was sie wollte. Etienne wusste, dass Kleidung in sozialen Kreisen immer eine taktische überlegung war. Sie wurde jedoch nicht in diesem Bereich ausgebildet, also blieb ihr nur ihre Neugierde, für die sie nie Zeit hatte, sie zu befriedigen.
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Doch diese Beleidigung, die sie an Raffaels Pullover ausmachen konnte, irritierte sie. Sie starrte es einen Moment an, versuchte nachzuvollziehen, ob es an sie gerichtet war oder ob das Ende des ersten Wortes, dessen Gro?teil durch seine Jacke verdeckt wurde, eher darauf deutete, dass sie gegen ihn gerichtet war. Dann wanderte ihr Blick hoch und sie sah sein ger?tetes Gesicht. Es war ihm sichtlich unangenehm, doch er wandte den Blick nicht ab, was sie noch mehr irritierte. Es musste doch irgendetwas geben, was ihn dazu verleiten würde, wegzuschauen. Scham schien es nicht zu sein. Vielleicht sollte sie es mit Einschüchterung versuchen?
?Scarlett hat das besorgt“, sagte er, seine Stimme rau vor Scham.
?Ich urteile nicht“, erwiderte sie schnell und meinte es auch so. Es war also gegen ihn gerichtet. Es war nur verwirrend, weil es nicht zu ihrem Bild von ihm passte.
?Sie meinte, es sieht gut an mir aus. Dann ist sie losgegangen und hat sich genau dasselbe Ding besorgt“, erz?hlte er weiter, ?Aber sie tr?gt es nicht. Ich glaube, sie wartet nur darauf, es mir zu geben, sollte ich das hier loswerden und behaupten, es w?re besch?digt oder so. Das macht sie immer, wenn sie sauer auf mich ist. Was sie heute im besonderen Ma?e war, nachdem du ihr alles gepetzt hast. Wei?t du, wie unm?glich es ist, sich nicht von ihr einkleiden zu lassen, wenn sie es fest vorhat?“
Hinter ihm kam Tatinne wieder zum Vorschein. Etienne h?rte in der unteren Etage Gerumpel und ?chzende Stimmen.
?Guten Abend, Raffael“, sagte Tatinne desinteressiert, ?ich habe gar keinen Brief von dir bekommen.“
Raffael gab ein entt?uschtes Ger?usch von sich, von dem Etienne sich sicher war, dass es gespielt war.
?Das tut mir so leid. Ich bin sicher, du konntest es kaum erwarten, von mir zu h?ren, aber irgendwie hatte ich da so eine Ahnung, dass ich meine Zeit verschwenden würde.“
Etienne bedachte Tatinne vorsichtig, w?hrend die Frau die Augen verdrehte. Sie sah dann zu Etienne, ?Ich hab dir etwas besorgt, was dir sicherlich gefallen wird. Es wird gerade unten hineingetragen.“
Misstrauen schlich in Etienne hoch und sie fragte sich, was ihre Tante nun für sie ausgebrütet hatte. Raffael blickte neugierig zwischen ihr und Tatinne.
?Und was genau ist es?“, fragte Etienne.
?Schau auf dem Weg nach drau?en.“
Dann wandte Tatinne sich ab und ging in ihr Zimmer. Catjill flog ihr still hinterher. Das verunsicherte Etienne. Es war, als würde Tatinne auf Abstand gehen und Etienne wurde klar, was auch immer da unten auf sie wartete, sie würde es nicht m?gen.
?Sollen wir?“, fragte Raffael und sah sie erwartungsvoll an. Sie wappnete sich innerlich und hoffte, dass, selbst wenn sie an diesem Abend keine nützlichen Informationen von ihm bekommen sollte, die Jacke es wenigstens Wert war. Sie musste auch dafür sorgen, dass er ihr die alte wiedergab. Etienne war einfach noch nicht bereit, sie zu verlieren.
Etienne stand auf und unterdrückte es, das Gesicht zu verziehen. Sie hatte so lange gesessen, dass ihre Schulter sich wieder versteift hatte. Aber etwas Bewegung würde guttun. Etienne deutet ihm, vorzugehen und zog etwas mühevoll Tatinnes Jacke an, als sie ihm nach unten folgte. Dann h?rte sie sein Pfeifen, als er anerkennend in die Ecke blickte. Etienne folgte seinem Blick und entdeckte ein Klavier, welches von den M?nnern in der hinteren Ecke des gro?en Raumes aufgestellt wurde. Ihr schien das Blut zu gefrieren, als sie es sah.
?Tatinne!“, rief sie beschwerend nach oben und biss sich dann auf die Lippe. Sie war kein Kleinkind mehr, nicht, dass sie sich in dem Alter je nach jemandem zu schreien erlaubt hatte.
Die Stimme ihrer Tante drang zu ihr nach unten, ?Stell dich nicht so an! Du warst fabelhaft vor … zw?lf Jahren? Das wird lustig!“
Etienne wandte sich wütend ab und sah wieder zu diesem verfluchten Ger?t. Sie würde es nicht mal mit Handschuhen anfassen. Oder sich an den Hocker setzen. Oder… sp?ter. Raffael war hier. Darum musste sie sich sp?ter kümmern. Auch wenn das Bild dieses Klaviers sich nun ihrem Kopf eingespeichert hat, wie eine unangenehme Erinnerung, welche ihr h?hnisch entgegenl?chelte.
Ihr Blick fiel auf Raffael, welcher belustigt schien. Er machte Anstalt etwas zu sagen, doch bevor es dazu kam, überwand sie den Abstand zwischen ihnen und sah bedrohlich zu ihm herauf, ?Wenn du es wagst, das in irgendeiner Art und Weise zum Thema zu machen, werde ich dafür sorgen, dass das der schlimmste Abend ist, den du je erlebt hast.“
Er hob beschwichtigend die Arme, grinste jedoch noch mehr. ?Ich wei? von nichts.“
Sie bedachte ihn noch einmal warnend und ging dann hinaus. Verflucht sei ihre Tante. Etienne wusste nicht, was sie vorhatte, aber nichts würde sie dazu bewegen, freiwillig dieses Ding anzufassen. Tatinne musste das wissen, ansonsten h?tte sie sich nicht in ihrem Zimmer versteckt, als Etienne es gesehen hatte. Aber das erkl?rte nun auch, wieso sie so nerv?s gewesen war. Tatinne liebte das Klavier, sie fasste es nur aus anderen Gründen nicht mehr an.