Ich soll diese Welt in eine neue ?ra führen. Doch je mehr ich sehe, desto mehr zweifle ich.
Elindros liegt vor mir, weit und lebendig. In all den Stra?en, in all den Gesichtern, entdecke ich keine einzige Spur von Unzufriedenheit. Nicht einmal ein Hauch von Sehnsucht nach Ver?nderung. Sind es nur jene, die auf der ?dunklen‘ Seite stehen, die eine neue Ordnung herbeisehnen?
Warum ist es in keiner einzigen Dimension m?glich, wahren Frieden zu finden? Warum lodert in jedem Herzen dieser unausl?schliche Funke von Groll? Ich spüre ihn, wie er in den Schatten flüstert, in den Tr?umen tobt, in den Erinnerungen lauert.
Wie kann ich diesem endlosen Kreislauf ein Ende setzen?
Und bin ich es überhaupt, die es tun muss?
Coren Veyr hebt das Astralis in die H?he. Das sanfte Glimmen auf seiner Oberfl?che flackert kaum merklich, als würde es meine Sorge spüren. Ob Aetherion Angst empfinden kann?
Nyssa tritt an seine Seite, die H?nde ehrfürchtig vor dem Bauch verschr?nkt. Ihre Miene bleibt reglos, doch ihr Blick verr?t, dass sie ganz genau wei?, welche Macht ihr Gebieter in den H?nden h?lt.
?Also, wie funktioniert dieses Ding?“, fragt Coren Veyr schlie?lich, als spr?che er über ein gew?hnliches Werkzeug. Seine Respektlosigkeit l?sst meine Wut auflodern. ?Muss ich es aufschlagen? Oder irgendwelche Zauberworte murmeln?“
Ich verschr?nke die Arme. ?Mein erstes Mal im Nexari war mit Zyar Velqorin und Sylas. Ich wei? nicht, wie ich es aus eigener Kraft betreten soll.“
Er lacht leise. ?Du bist eine miserable Lügnerin.“
?Ich lüge nicht!“, fauche ich. Hitze steigt mir in die Wangen, doch ich kann sie nicht unterdrücken. ?Bitte! Lass mich zurück zu meinen Leuten! Die Anführerin wei? sicher eine L?sung für dein Problem.“
Coren schnaubt abf?llig und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Schl?fe. ?Du bist wirklich naiv, Vespera. Das zehnte Gef?? des Sonatius Mortaeda – und du willst mir weismachen, dass du nicht wei?t, wie eines seiner wichtigsten Werkzeuge funktioniert?“ Seine Stimme senkt sich, wird gef?hrlich sanft. ?Liegt dir viel an dieser Kugel?“
Mir schnürt es die Kehle zu. Allein der Gedanke, dass er Aetherion etwas antun k?nnte, l?sst mich instinktiv die Hand ausstrecken. ?Bitte, tu ihr nichts.“
Sein L?cheln ist pures Gift. Ein leises tststs verl?sst seine Lippen, begleitet von einem süffisanten Schnalzen der Zunge.
?Vespera, ich werde dir helfen, deinen Weg zu finden“, sagt er schlie?lich, und als ich überrascht aufschaue, funkeln seine Augen wie kaltes Silber. ?Wenn du mir hilfst, Velsoth in die H?nde seines rechtm??igen Anführers zu bringen, werde ich dir den Weg zum Sonatius Mortaeda zeigen.“
Mir stockt der Atem. ?Aber… wie?“
?Meine Schatten.“ Die Worte gleiten fast liebevoll über seine Lippen. ?Sie sehen auch in der Zwischendimension. Ein Teil des Urwesens ist dort versiegelt – und ich werde dich zu ihm bringen. Doch nur, wenn du der Eheschlie?ung mit mir zustimmst.“ Er neigt sich leicht vor, sein Blick h?lt mich gefangen. ?Sei die Frau an meiner Seite, und ich schw?re, dich für immer zu beschützen. Niemand wird dir ein Haar krümmen k?nnen.“
Die Vereinigung mit dem Sonatius Mortaeda im Austausch für meine Freiheit? Eine Freiheit, die ich nie wirklich besessen habe? L?cherlich. Ich bin mein ganzes Leben gefangen gewesen – und habe dafür nichts erhalten. Diesmal ist es nicht anders. Eine Wahl bleibt mir ohnehin nicht. Also kann ich genauso gut aus freien Stücken ins Nexari treten.
Meine Hand hebt sich langsam, meine Finger deuten auf das Astralis. Coren Veyr beobachtet mich mit einem Ausdruck, der irgendwo zwischen Argwohn und Neugier schwankt. Zwei Sekunden vergehen. Vielleicht drei. Dann tritt er vor und übergibt es mir.
Zyar sagte mir einst, als wir auf der stillen Wasseroberfl?che in der Menschenwelt standen, ich solle es von meiner Hand gleiten lassen. Doch was wird das Astralis diesmal tun? Wird es mich annehmen? Oder sich abwenden?
Mein Herz pocht in meiner Kehle. Die Nervosit?t gr?bt sich tief in meine Miene, unübersehbar für jeden, der genau hinsieht. Doch ein Entrinnen gibt es nicht – es sei denn, Rhea Varne würde noch einmal durch diese Tür stürmen. Aber das ist unm?glich. Haldron Krythar hat soeben den Raum verlassen, um auf Coren Veyrs Befehl hin den Eingang zu bewachen.
Nun stehen nur noch Nyssa, Coren Veyr und ich einander gegenüber. Nyssa, die ihre Augen auf den Boden senkt, als k?nne sie sich dadurch unsichtbar machen. Und Coren, dessen Haltung vor Selbstbewusstsein strotzt, wie eine Festungsmauer, die sich keinem Sturm beugt.
Ich atme tief ein. Die Angst, dass dies mein Ende bedeuten k?nnte, l?sst meine Knie weich werden. Dann neige ich meine Hand. Lasse das Astralis über meine Finger gleiten. Die glatte Oberfl?che streift meine Haut – eine sanfte, kühle Berührung. Fast so, als würde sie mir leise versichern, dass ich ihr vertrauen kann.
Bevor das Astralis den Boden berühren kann, bleibt es in der Luft schweben. Genau wie damals strahlt es ein grelles Licht aus, das mir die Sicht nimmt. Erneut dauert es wenige Sekunden, bevor das Leuchten aufh?rt.
?Das Tor zum Nexari.“
Die verblüffte und zugleich überw?ltigte Stimme von Coren Veyr ert?nt in der Stille. Ich werfe einen Blick in die Richtung, in der das Astralis zu leuchten begonnen hat. Der gleiche Riss ist entstanden, und erneut schl?gt mein Herz beinahe aus der Brust.
Coren Veyr schnipst. Er signalisiert mir, als Erste einzutreten. Entweder fürchtet er sich vor einem Hinterhalt oder vor dem Nexari selbst. Obwohl auch mich die Angst vor dem Unbekannten auf den Zehenspitzen wippen l?sst, darf ich keine Schw?che zeigen. Das Leben von Sylas und Mirael steht auf dem Spiel. Mit langsamen Schritten n?here ich mich dem Eingang und spüre eine starke Kraft, die meinen K?rper in das Innere des Risses einsaugen m?chte. Zuvor war dieses Gefühl nicht da.
…Doch Leben und Tod, ein ewiger Tanz…
Diese Stimme. Ich erkenne sie sofort – dieselbe, die schon bei meinem ersten Eintreten ins Nexari nur für meine Ohren gesungen hat. Eine liebliche, unwirkliche Melodie, die sich tief in meine Erinnerung gegraben hat. Niemals k?nnte ich sie vergessen.
Das Nexari selbst stellt sich mir wieder als Hindernis entgegen. Kaum habe ich den Riss durchschritten, befinde ich mich im freien Fall. Unter mir breitet sich der endlose Ozean aus, schimmert in einem unwirklichen Purpurrosa. Das Wasser rast auf mich zu – doch bevor es mich berührt, stehe ich pl?tzlich auf festem Grund. Eine tieforangene Wiese erstreckt sich um mich herum.
über mir brennen gefühlt siebzig Sonnen am Himmel, golden und strahlend. Ihre Hitze sollte mich verbrennen, doch stattdessen hüllt sie mich in wohlige W?rme. Ich spüre ihre Berührung auf meiner Haut, als w?re es eine Begrü?ung.
Die Zwischendimension empf?ngt mich erneut in ihrem pr?chtigen Glanz. Zyar hatte mir einst erz?hlt, dass er bei einem seiner Besuche im Nexari mit erbarmungsloser K?lte zu k?mpfen hatte – und dass der Boden unter seinen Fü?en immer wieder verschwand. Ich sollte mich wohl glücklich sch?tzen, dass mich das Nexari auch diesmal wohlwollend aufnimmt.
?So oft haben die Kinderm?dchen in der Vergangenheit von den Schrecken des Nexari erz?hlt“, sagt Coren Veyr.
Er und Nyssa stehen direkt hinter mir. Die Frau zittert am ganzen Leib, ihr Blick unstet, voller Angst. Doch Coren Veyr? Er l?chelt. Dasselbe selbstgef?llige, triumphierende L?cheln, w?hrend seine Augen in die Ferne gerichtet bleiben.
Er versteht nicht, dass der atemberaubende Ausblick, den er nun genie?t, nur meinetwegen so ist. Soweit ich Zyar richtig verstanden habe, passt sich das Nexari dem Eintretenden an. Doch warum richtet es seinen Fokus immer auf mich?
?Nun denn, wollen wir?“ Coren Veyr grinst selbstgef?llig.
?Ihr wart doch noch nie an diesem Ort“, entweicht es mir zu sp?t, und ich k?nnte mich selbst ohrfeigen für meine Dummheit. ?Wie k?nnt Ihr wissen, wohin Ihr mich führen müsst?“
?Das Nexari wird uns führen“, entgegnet er knapp.
Keine weitere Erkl?rung, kein Hinweis – nur diese Worte. Und schon setzen wir uns in Bewegung, geradewegs nach Norden.
Die Sonnen am Himmel verharren regungslos. Ich blicke direkt hinein, doch meine Augen erblinden nicht. Es ist, als w?ren sie weit genug entfernt, um mir keinen Schaden zuzufügen – oder als existierten sie gar nicht wirklich.
Trotz der unwirklichen Sch?nheit dieses Ortes bleibt ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust. Die Gesellschaft von Coren Veyr bereitet mir keine Freude, ganz im Gegenteil. Ein leises Unbehagen regt sich in mir. Wie will er mir helfen, wenn er nicht einmal wei?, wohin er gehen muss?
Nyssa, seine Bedienstete, schweigt. Solange sie keinen Befehl erh?lt, bleibt sie wie ein Schatten hinter uns. Erst jetzt f?llt mir auf, dass an diesem Ort nicht die üblichen Naturger?usche zu h?ren sind – kein Rauschen des Windes, kein Zwitschern der V?gel, nicht einmal das leiseste Rascheln der Bl?tter. Alles N?tige dafür w?re vorhanden, und doch herrscht vollkommene Stille.
Manchmal h?re ich das nerv?se Schlucken von Nyssa oder das ungeduldige Zungenschnalzen von Coren Veyr, wenn er etwas entdeckt. Und dann ist da noch mein eigenes Herz, das so heftig schl?gt, als wolle es mir aus der Brust springen.
Minuten vergehen, vielleicht auch nur Sekunden – das Nexari mag mir einen Streich spielen. Doch wir wandern schon eine ganze Weile, und bisher hat niemand unseren Weg gekreuzt.
?Du willst der Anführer von Velsoth werden“, merke ich an. ?Ist Rhea damit einverstanden?“
?Meine kleine Schwester muss mir nicht ihr Einverst?ndnis geben“, zischt er. ?Sie ist ein Kind. Dass unser Vater sie zur rechtm??igen Erbin ernannt hat, ist einfach nur l?cherlich.“
Unser Vater? Also betrachtet er Darian Varne, den ehemaligen Anführer von Velsoth, wirklich als seinen eigenen Vater. Was geht in Coren Veyr nur vor, dass er sich entschlossen hat, seine Halbschwester zu verraten? Rhea würde niemals akzeptieren, dass er ihren Platz einnimmt. Sie ist viel zu entschlossen, den letzten Willen ihres Vaters zu erfüllen.
Es ist besser, wenn ich ihn nicht weiter provoziere. Ich sehe doch, dass er nicht an meiner Seite steht, weil er mir wohlgesonnen ist. Er verfolgt einzig seinen eigenen Vorteil.
Doch w?hrend ich neben ihm gehe, einem Elindine, der mir kein Freund ist, spüre ich eine seltsame Unruhe in mir. Er behauptete, das Nexari noch nie zuvor betreten zu haben, und doch mustert er die Umgebung suchend, beinahe abwartend.
Dann, aus dem Nichts, ein Ger?usch.
Es ist leise, kaum mehr als ein Wispern in der Stille. Doch es ist da – und es kommt nicht von uns.
Coren Veyr h?lt abrupt inne. Seine Haltung bleibt entspannt, doch ich bemerke das kaum merkliche Zucken seiner Fingerspitzen. Seine Schatten sind in Bewegung, lauern unter seinen Fü?en wie eine Bestie, die nur darauf wartet, entfesselt zu werden. Ich folge seinem Blick, doch da ist nichts – nur die fremdartige Landschaft des Nexari, reglos, still.
Nyssa scheint nichts geh?rt zu haben. Ihr Blick bleibt auf den Boden geheftet, ihre H?nde sind zu F?usten geballt.
Dann erklingt ein Laut, tief und kehlig, ein amüsiertes Lachen, das die Stille zerschneidet.
?Ah, Besucher.“
Mir l?uft ein Schauer über den Rücken. Die Stimme ist zugleich rau und schmeichelnd.
Ein dunkler Schatten l?st sich aus der Umgebung. Erst ist er formlos, dann nimmt er Gestalt an – ein schlanker Mann mit überlangen Gliedma?en, in eine Robe gehüllt, die so schwarz ist, dass sie das Licht zu verschlucken scheint. Sein Haar ist silbern und seine Augen … oh, seine Augen. Sie sind nicht wie die der anderen Zwielichter, die ich gesehen habe. W?hrend Alora, Celestara und Seraphina Nyrelis Augen wie Schlangen haben, starren mir hier zwei tiefe, endlose Vertiefungen entgegen.
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?Endlich“, murmelt er mit einem Schmunzeln und f?hrt sich mit den langen Fingern übers Kinn. ?Ich hatte schon befürchtet, euer Weg würde euch in eine andere Richtung führen.“
Sein Blick bleibt an mir h?ngen – prüfend, interessiert.
?Vespera Entium.“
Wie ein Spielzeug, das er gerade aus einer Sammlung gezogen hat.
?Wie sch?n, dass du dich uns anschlie?t.“
Ich blicke zu Coren Veyr, doch er wirkt keineswegs überrascht.
Natürlich nicht.
Mein Magen zieht sich zusammen. Er hat silbernes Haar. Hatten die Nyrelis-Schwestern nicht angedeutet, dass nur die Losniw dieses Merkmal besitzen? War das nicht auch der Grund, weshalb sie mich so schnell entlarvt hatten?
Der Mann l?chelt mir zu – fast so, als k?nne er meine Gedanken lesen. Dann beginnt er langsam zu nicken. ?Du hast ein kluges K?pfchen.“
Coren Veyr scheint den Worten des Fremden nicht folgen zu k?nnen. Ich mache mir nicht die Mühe, sie ihm zu erkl?ren. Schlie?lich hat er mich ebenso im Dunkeln gelassen.
Zu meiner überraschung fragt der Velsothier jedoch nicht weiter nach. Stattdessen richtet er seinen Blick fordernd auf den Mann.
?Und? Was ist jetzt mit unserer Vereinbarung? Ich habe meinen Teil erfüllt.“
Der Mann, dessen leere Augenh?hlen sich wie ein Sog in meine Seele graben, nickt zustimmend. Es scheint ihn nicht zu interessieren, ob jemand mit ihm spricht. Sein Blick bleibt auf mir ruhen – als sei ich das einzige Wesen, das in diesem Moment für ihn von Bedeutung ist.
?Nun gut“, sagt er schlie?lich und wendet seinen Blick ab.
Coren Veyr packt Nyssa am Oberarm und zerrt sie nach vorne. Bislang war sie kaum mehr als ein Schatten hinter uns gewesen – so unauff?llig, dass ich ihre Anwesenheit fast vergessen h?tte. Jetzt zuckt sie zusammen, als ihr Blick auf den Fremden trifft. Sie versucht, hinter Coren Veyr Schutz zu suchen, doch er hindert sie daran.
?Sie kann dir gute Dienste leisten“, meint der Velsothier mit einem gleichgültigen Schulterzucken und st??t Nyssa grob nach vorn. Sie stolpert und f?llt auf die Knie.
Verzweifelt wirft sie einen Blick über die Schulter.
?A-Aber... Coren. Du hast doch gesagt, dass du mich liebst. Dass du mich heiraten willst. Du wolltest mich zu deiner Frau machen.“
Coren Veyr schnaubt ver?chtlich, schnalzt mit der Zunge und wackelt tadelnd mit dem Finger. ?Nyssa Orwen. Eine Velsothier von niederer Herkunft. Wie k?nnte jemand wie ich mit dir den Bund der Ehe eingehen?“ Er lacht leise, amüsiert über ihre Naivit?t. ?Natürlich habe ich dir nur sü?e Worte ins Ohr geflüstert, damit du mir nachts das Bett w?rmst. Glaubst du etwa wirklich, ich würde mir jemanden wie Vespera Entium entgehen lassen? Sieh sie dir doch an!“
Nyssas hellgrüne Augen suchen meinen Blick. Doch in ihnen liegt kein Hass – nur Trauer. Trauer darüber, dass sie sterben wird? Oder weil sie erkennen muss, dass die Liebe ihres Lebens nichts weiter als ein Heuchler ist?
Coren Veyr f?hrt unbeirrt fort: ?Sie ist das Gef?? des Sonatius Mortaeda. Und sie ist eine Losniw! Wei?t du, wie oft jemand au?erhalb von Losnat je eine Elindine aus diesem Dorf heiraten durfte? Noch nie! Stell dir nur vor, was für Kinder aus dieser Verbindung entstehen werden! Oh nein, diesen Traum gebe ich nicht für eine wie dich auf.“
Dann blickt er zum Fremden und grinst breit. ?Zwielicht – sie geh?rt ganz dir.“
Der Mann scheint zun?chst nicht zuzuh?ren, l?sst sich nicht von Coren Veyrs Boshaftigkeit beirren. Nur bei diesem einen Worten regt sich etwas in ihm. Zwielicht... Zyar hatte diesen Begriff schon bei meinem ersten Besuch im Nexari erw?hnt. Das bedeutet, dass jeder in Elindros die Bewohner des Nexari so nennt.
Was wird dieser Mann mit Nyssa tun? Wird er ihr dasselbe antun, was auch Lord Louweris mit mir vorhatte?
Er kniet sich zu ihr hinunter. Nyssa zittert am ganzen Leib. Ihr Blick wandert hilfesuchend zu Coren Veyr – doch in seinen Augen liegt kein Funken Mitgefühl. Nichts als K?lte.
Der Fremde legt ihr sanft die Hand ans Kinn und zwingt sie, ihm in die Augen zu sehen. Wie erstarrt stehe ich daneben und bringe kein Wort hervor, obwohl sich in meinem Inneren alles dagegen auflehnt. Ich spüre, dass etwas Schreckliches geschehen wird. Selbst in der Menschenwelt musste man für das Leben mit dem Tod bezahlen. Doch was k?nnte ich tun? Was kann ich dem Unvermeidlichen entgegensetzen?
Der Blick des Mannes bohrt sich tief in Nyssas Augen. Pl?tzlich beginnt sie zu würgen, unkontrolliert, verzweifelt. Sie greift sich an den Hals, ringt nach Luft. Der Fremde bleibt regungslos sitzen und beobachtet sie, w?hrend sie sich windet. über ihrem K?rper beginnen seltsame, durchscheinende Gestalten aufzusteigen—zuerst drei, dann verzweigen sie sich weiter, vervielfachen sich, als w?ren ihre Seelen selbst in Splitter zersprungen. Mein Herz verkrampft sich. Ich blicke zu Coren Veyr, doch sein Gesicht bleibt ausdruckslos. Sieht er nicht, was ich sehe?
Der Fremde, der mich einen Moment lang ansieht, wendet sich wieder ab. Nyssa ist nun vollkommen erstarrt. Die geisterhaften Erscheinungen zerren an ihr, als wollten sie sich mit aller Gewalt von ihr losrei?en. Der Mann führt langsam seine Handfl?chen zusammen, und mit ihnen werden auch die Seelen zusammengedrückt. Sie winden sich, verschmelzen, und werden schlie?lich wieder eins. Eine Druckwelle durchbricht die Stille und wirft mich zu Boden. Coren Veyr bleibt zwar auf den Beinen, doch selbst er ger?t ins Straucheln.
Dann hebt der Fremde ruckartig die Arme. Die verdichtete Seele l?st sich aus Nyssas K?rper. Für einen Moment erkenne ich leuchtende Linien, die an ihren Armen entlanglaufen, sich über ihren Hals ziehen und schlie?lich ihren Kopf verlassen—wie F?den, die aus ihr gezogen werden, durchtrennt von einer unsichtbaren Klinge.
Der Mann dreht sich nun zu mir. Mit flie?enden Bewegungen malt er seltsame Muster in die Luft. Pl?tzlich erscheinen Nyssa und Coren Veyr vor mir, eingefroren in der Zeit.
?Der echte Velsothier sieht uns nicht mehr“, sagt der Fremde und tritt n?her. An seinen Fingerspitzen flackern jene leuchtenden F?den, die ich zuvor an Nyssas K?rper gesehen habe. ?Die Zeit steht still für ihn. Doch nicht für uns.“
?Weil wir Losniws sind“, antworte ich leise.
?In der Tat“, best?tigt er.
?Wer bist du?“
?Ein Niemand“, erwidert er. ?So wie wir alle, die zwischen den Dimensionen wandern.“
?Du bist kein Niemand, wenn du einen Namen hast“, entgegne ich. ?Du bist ein Losniw. Ein Entium. Also sag mir deinen Namen.“
Woher kommt dieser pl?tzliche Mut? Vielleicht liegt es daran, dass ich erkenne, wie sehr ich die Wahrheit brauche—egal, wie gef?hrlich sie sein mag.
?Einst nannte man mich Veydris Entium“, sagt er schlie?lich. ?Heute nennen sie mich den falschen Zwielicht. Nicht einmal die Bewohner des Nexari akzeptieren mich als einen der ihren. Weder in Elindros noch hier habe ich ein Zuhause.“
Er senkt den Kopf leicht.
?Du hast dich gewiss schon gefragt, warum ich so aussehe, wie ich aussehe. Ohne Augen. Mit Gliedern, die zu lang sind. Ein Scheusal.“
Ich nicke. Zwar hatte ich mich gefragt, doch nie verurteilt. Nicht einmal im Stillen. Und ich habe auch jetzt nicht vor, damit zu beginnen. Denn ich war nie jemand, der ein Wesen nach seinem ?u?eren misst—und das will ich auch niemals sein.
?Was ist das vor uns?“, frage ich und deute auf die eingefrorene Szene vor mir. Ich will nicht weiter auf seine Vergangenheit eingehen – sie geht mich nichts an.
Die beiden Gestalten sehen aus wie Nyssa und Coren Veyr. Doch es sind nur Kopien, denn die echten stehen zu meiner Linken.
?Die Gabe der Losniw reicht weit über das Gedankenweben hinaus“, erkl?rt das falsche Zwielicht. ?Das Seelenweben ist die wahre F?higkeit unseres Dorfes.“
?Das Seelenweben? Aber wie soll das funktionieren?“
?Menschen, Elindine, und auch die Wesen anderer Dimensionen“, sagt der Mann mit ruhiger Stimme. ?Sie alle bestehen aus Fragmenten von Erinnerungen. Erinnerungen formen unser Wesen. Wenn sich jemand an dich erinnert, dann nicht an dein blo?es Ich, sondern an geteilte Momente, an das Gefühl, welches du in ihm ausgel?st hast. Niemand denkt an die reine Existenz – nur an das Erlebte.“
?Das bedeutet... du hast Nyssas Seele gewebt“, flüstere ich entsetzt. Er nickt.
?Darum hat Coren Veyr nicht reagiert. Er konnte nicht sehen, was geschehen ist. Bedeutet das, dass Nyssa nun…“
?Ja“, sagt er schlicht. ?Sie ist tot. Der Velsothier hat mir die Seele dieser Frau versprochen, als Gegenleistung dafür, dass ich euch beide sicher in die Menschenwelt führe.“
Ich m?chte ihn anschreien, ihn für seine Tat verfluchen. Doch was würde es ?ndern? Es ist l?ngst geschehen.
Und vielleicht… h?tte Nyssa mich genauso geopfert. Wenn ich es richtig verstanden habe, war sie so blind vor Liebe, dass sie Coren Veyrs Plan ohne Zweifel gefolgt ist. Vermutlich hat er ihr versichert, dass ich im Nexari sterben werde.
Mein Herz zieht sich zusammen.
Wieder ist ein Leben meinetwegen erloschen.
Ich versuche, mich auf den Beinen zu halten, mich an diesem Gedanken festzuklammern – dass es einfach nicht anders ging. Aber es hilft nicht. So fremd mir Nyssa war, so wenig sie für mein Leben übrig hatte… die Schuld bleibt. Warum passiert das jedes Mal?
?Dies ist die st?rkste Erinnerung von Nyssa Orwen“, beginnt das falsche Zwielicht zu erz?hlen. ?Eine Elindine aus dem Dorf Velsoth. Geboren in eine unbedeutende Familie, mit Eltern, die zu sehr mit ihren eigenen Problemen besch?ftigt waren, um das kleine Kind zu sehen, das einfach nur geliebt werden wollte. Mit vierzehn Jahren lief sie von zu Hause fort – nachdem ihre Eltern in ihrer Verzweiflung begonnen hatten, sie regelm??ig an andere M?nner auszuborgen, um über die Runden zu kommen. In dieser Zeit war Nyssa Orwen vollkommen allein – und so führte ihr Weg sie direkt in die Arme von Coren Veyr, damals sechzehn Jahre alt. Seine Mutter hatte erst kürzlich Darian Varne geheiratet, den damaligen Anführer von Velsoth. Coren Veyr verliebte sich augenblicklich in Nyssa Orwen und versprach ihr seinen Schutz. Trotz all ihrer Wunden, trotz allem Leid, hat sie ihre Eltern nie verraten – und sich stattdessen entschlossen, ein neues Leben zu beginnen.“
Warum erz?hlt er mir das alles? Was soll das?
Nyssa ist tot.
Er selbst wollte es so.
?Und nun – die Erinnerung, an der Nyssa Orwen seither festgehalten hat“, sagt er und l?sst die F?den los, die er die ganze Zeit über in den H?nden gehalten hat.
Die eingefrorene Szene vor meinen Augen beginnt sich zu bewegen. Nyssa steht Coren Veyr gegenüber, ihre Augen leuchten erwartungsvoll.
?Ja, mein Geliebter?“, sagt sie l?chelnd. ?Du hast nach mir gerufen?“
?Meine Nyssa, komm“, erwidert er und streckt ihr die Hand entgegen. ?Ich habe wunderbare Neuigkeiten.“
Verwundert legt sie ihre Hand in seine. Coren Veyr zieht sie sanft in seine Arme, küsst ihre Stirn. Nyssa schlie?t die Augen, versinkt in der W?rme dieses Moments. Ich kann ihren Herzschlag spüren – er h?mmert in meinen Ohren.
?Wir werden bald heiraten“, sagt Coren Veyr.
Nyssa blickt ihn an, ihre Stirn legt sich in Falten.
?Aber… wie? Du hast mir gesagt, dein Vater ist strikt gegen eine Eheschlie?ung mit einer Frau meines Standes. Hat er seine Meinung ge?ndert?“
?Nein, leider nicht“, gibt Coren Veyr seufzend zu. ?Er hat mir heute mitgeteilt, dass ich Marina Feroy, eine der T?chter von K?nig Valron Feroy, heiraten soll – damit ich in Thalvaren lebe, mit dem Rest der K?nigsfamilie.“
?Aber… das ist doch wunderbar, mein Liebster“, sagt Nyssa, auch wenn ihre Stimme leise bricht. Ich sehe die Trauer in ihren Augen. ?Wenn du in die K?nigsfamilie heiratest, wirst du ein gutes Leben führen.“
?Was bringt mir ein Leben, in dem du nicht vorkommst?“
Sie sieht ihn überrascht an. Er streicht ihr über die Wange, küsst sie z?rtlich.
?Ich werde keine andere heiraten. Schon gar nicht Marina Feroy“, verspricht Coren Veyr. ?Darum haben meine M?nner und ich einen Plan entwickelt, um mein Anrecht als Anführer von Velsoth zu beschleunigen.“
?Was meinst du damit?“
?Ich werde dem Leben meines Vaters ein Ende setzen“, sagt er mit genau jenem triumphalen L?cheln, das mir beim ersten Treffen G?nsehaut verursachte. ?Sein Tod wird wie ein natürlicher wirken. Niemand wird Verdacht sch?pfen. Vor kurzem haben meine Leute zwei Syvrali-M?dchen entdeckt, die sich in unserem Gebiet herumgetrieben haben. Sie wurden festgenommen – und glücklicherweise wei? weder mein Vater noch sein Gefolge davon. Die beiden sind aus ihrem Dorf geflohen, eine Zeit lang waren sie meine Gefangenen. Dass sie mir in die H?nde gefallen sind, ist ein Schicksalsschlag. Syvrali besitzen die F?higkeit, Visionen zu sehen und zwischen den Dimensionen zu kommunizieren – eine Gabe, die sie nicht nutzen, weil sie sie das Leben kostet. Ich habe einen Zwielicht angeheuert, der den Plan umsetzen wird.“
?Das alles tust du… für mich?“, fragt Nyssa, überw?ltigt.
?Ich tue es, weil ich dich liebe.“
Die Erinnerung l?st sich augenblicklich in Luft auf. War das wirklich Nyssas wertvollste Erinnerung? Wie traurig, dass ausgerechnet eine Lüge für sie eine solche Bedeutung hatte.
?Coren Veyr wusste, dass Darian Varne, sein Stiefvater, ihn mit Marina Feroy verheiraten wollte, weil er nicht als n?chster Anführer vorgesehen war“, erkl?rt das falsche Zwielicht, und ich nicke wissend. ?Marina Feroy ist die Tochter von Valron Feroy und seiner sechsten Ehefrau Arlethra Feroy. Von all seinen T?chtern ist sie eine der weniger begehrten – weder besonders schlank noch au?ergew?hnlich hübsch. Nyssa wusste tief in ihrem Inneren, dass dies einer der Gründe war, weshalb Coren Veyr sich keine Ehe mit ihr vorstellen konnte.“
Er schweigt für einen Moment und sieht mich eindringlich an. ?Seralyne und Nirellai Tharavos sind jene Syvrali, die ihr Leben lassen mussten, damit Coren Veyr Kontakt zu mir aufnehmen konnte.“
?Also hast du auch ihre Seelen gewebt?“
Der Mann nickt. ?In der Tat. Traurige Seelen, deren Schicksal durch ihre Herkunft vorgezeichnet war. Sie sind von zu Hause geflohen, in der Hoffnung auf ein freies Leben – nur um dem Tod direkt in die Arme zu laufen.“
?Das bedeutet, dass Coren Veyr bereits seit dem Tag, an dem er von der arrangierten Ehe erfahren hatte, wusste, dass Darian Varne ihn nie als Nachfolger in Betracht gezogen hat“, schlussfolgere ich erschüttert. Wieder nickt das falsche Zwielicht. ?War es seine Besessenheit nach Macht, die ihn Nyssa opfern lie?? Oder hat er sie nie geliebt?“
?Ich habe nur die Seele von Nyssa gekostet – also kenne ich nur ihre Perspektive dieser Geschichte“, erwidert er und zuckt gleichgültig mit den Schultern. ?Jedenfalls war dies der erste Schritt des Seelenwebens. Nun zur Hauptattraktion.“
Das falsche Zwielicht richtet seine H?nde in die Richtung, in der die F?den nun am Boden liegen. Sie waren zuvor aus Nyssas K?rper hervorgetreten – meine Vermutung hatte sich best?tigt: Ihre Seele wurde, wie eine Marionette, kontrolliert.
Mithilfe einer unsichtbaren Macht zieht der Mann die F?den in seine Hand. Sie erinnern in Aussehen und Beschaffenheit an Spinnweben – feine, silbrige Fasern, die sich auf seiner Zunge aufl?sen, als w?ren sie dafür gemacht, dort zu vergehen.
Angewidert verziehe ich das Gesicht, doch meine Neugier l?sst mich nicht wegsehen. Was waren diese F?den? Waren sie tats?chlich Nyssas Seele – oder nur ein Werkzeug des falschen Zwielichts, um Leib und Seele zu trennen?
Er schluckt sie hinunter. Pl?tzlich ert?nt ein Schrei hinter mir. Erschrocken drehe ich mich um – und sehe, dass Coren Veyr wieder bei Bewusstsein ist. Doch er ist nicht derjenige, der diesen markerschütternden Laut ausgesto?en hat. Es ist Nyssa. Sie, die eigentlich tot sein müsste, kreischt und windet sich.
Und dennoch erkenne ich eindeutig: Die Frau vor mir ist nicht mehr am Leben. Das falsche Zwielicht ist es, der ihr diese Qualen zufügt.
Zornig blicke ich zu ihm hinüber. Vor mir steht nun nicht mehr das Wesen mit den zu langen Gliedma?en und den leeren Augenh?hlen. Stattdessen sehe ich jemandem ins Gesicht, dessen graue Augen den meinen gleichen.
Das letzte Bisschen, das noch in Nyssa lebendig war, wird ihr ausgesaugt. Ihr K?rper sackt endgültig in sich zusammen. Coren Veyr blickt nachdenklich auf seine einstige Geliebte. Einige Sekunden vergehen, ehe er sich abwendet und über ihren leblosen K?rper hinwegtritt, um sich uns anzuschlie?en.
?Nun denn, lasst uns die Reise in die Menschenwelt antreten!“, sagt Coren Veyr munter und klatscht in die H?nde. ?Ich kann es kaum erwarten, dich zu ehelichen, meine wundersch?ne Vespera.“
?L?sst es dich wirklich kalt, dass deine Geliebte für dich sterben musste?“, zische ich angewidert von seiner K?lte. ?Diese Frau hat dich mehr geliebt als ihr eigenes Leben!“
?So geh?rt sich das auch“, entgegnet Coren Veyr unbeeindruckt. ?Nyssa war eine Zeit lang die richtige Frau für mich, weil sie mich angebetet hat. Jetzt hat sie keinen Nutzen mehr. Sie war lediglich ein Mittel zum Zweck.“
Diese Worte bringen mein Blut zum Kochen. Ich will ihn anschreien. Ich will ihn für ihren Tod verantwortlich machen. Doch er hat ihr kein Messer an die Kehle gehalten. Er hat sie zu nichts gezwungen.
Es war allein ihr liebendes Herz, das sie in ihren Untergang geführt hat.