?Vespera…“
Die weibliche Stimme durchdringt die Stille, sanft und doch so eindringlich, dass sie mich abrupt aus dem Schlaf rei?t. Meine Augenlider zucken, als ich mehrmals blinzle, um mich an das glei?ende Tageslicht zu gew?hnen. Benommen hebe ich den Kopf und lasse meinen Blick suchend umherschweifen. Ein seltsames Gefühl dr?ngt sich auf – jemand muss in meiner N?he sein. Doch da ist niemand. Nur das schrille Kreischen der Pelikane dringt zu mir, ihre Rufe hallen über die hohen Mauern des k?niglichen Gartens.
Schlaftrunken reibe ich mir die Augen, der Schleier des Traums, an den ich mich nicht zu erinnern scheine, noch schwer über meinen Gedanken. Doch als ich meine H?nde betrachte, stocke ich pl?tzlich.
Die H?nde, die ich anstarre, fühlen sich fremd an – klein, zierlich, fast wie die eines Kindes. Ein unbestimmter Schreck durchzuckt mich, und ich atme flach, w?hrend meine Gedanken wild durcheinander rasen. Wie kann das sein?
Langsam hebe ich den Blick und folge mit den Augen dem glühenden Abendhimmel, der in flammenden Rot- und Goldt?nen brennt. Ein sanfter Wind streicht mir über die Wange, kündigt die herannahende Nacht an. Doch etwas in mir str?ubt sich. Vor einem Augenblick war es noch Tag.
Wo bin ich? Ist das wirklich der k?nigliche Garten? Wie kann ich hier sein? Die Gedanken wirbeln, suchen nach einer Antwort, doch es gibt keine. Das letzte Mal, dass ich diesen Ort gesehen habe, war vor Jahren, als Kind. Habe ich mich im Schlaf hierher verirrt? Aber wann? Wie?
Pl?tzlich durchzuckt mich eine kalte Erkenntnis. Es ist unm?glich. Es ist mir strengstens untersagt, mein Zimmer zu verlassen. Die Tür ist immer abgeschlossen. Und doch… hier bin ich.
Nichts ergibt Sinn. Ein Schauer l?uft mir über den Rücken, als ich erneut den Himmel betrachte. Ich strecke meine Beine aus, und ein weiterer Schauer durchf?hrt mich, als ich merke, dass auch diese viel kürzer sind, als ich sie in Erinnerung habe. Eine seltsame Beklemmung breitet sich in mir aus, w?hrend sich die Realit?t immer fremder anfühlt. Mit einer wachsenden Vorahnung zwinge ich mich, aufzustehen.
Doch als ich mich kraftvoll vom Boden abdrücken will, passiert etwas Unerwartetes: Ich hebe mich kaum vom Boden. Meine Beine, so leicht und kraftlos wie die eines Kindes, tragen mich nicht wie gewohnt. Mein Herz schl?gt mir bis zum Hals, und ein kalter Hauch von Unwirklichkeit durchzieht meine Gedanken. Was stimmt hier nicht?
?Ich bin wieder ein Kind“, realisiere ich pl?tzlich und greife fassungslos nach meinen Haaren.
Meine normalerweise langen wei?en Haare, die ich gerne offen trage, haben nun die gleiche L?nge wie in meiner Kindheit. Seit meinem siebten Lebensjahr hatte ich sie nicht mehr schneiden lassen. Dies ist bereits zehn Jahre her. Verwirrt suche ich nach einer M?glichkeit, mein Spiegelbild zu sehen. Doch ich finde weder einen Spiegel noch eine Reflexion, die mir Gewissheit verschaffen k?nnte.
Neben den hohen Mauern des k?niglichen Gartens sind etliche hohe B?ume angepflanzt, die einen Blick auf das, was jenseits der Mauern liegt, verhindern. Das perfekte Gef?ngnis. Selbst in meiner Kindheit konnte ich nur den Himmel genie?en und den fernen Stimmen der Bürger lauschen, die aus der Ferne zu mir drangen.
Ich muss in einem Traum gefangen sein! Das ergibt alles keinen Sinn! Moment… Wenn das wirklich der Fall ist, warum sollten mir dann Grenzen gesetzt sein?
Mit diesem Gedanken renne ich mit meinen kurzen Beinen auf die hohen Mauern zu, die mich all die Jahre von der Au?enwelt abgeschottet haben. Ich will fliegen, will wissen, wer die Menschen sind, die auf der anderen Seite so lebhafte Gespr?che führen. Will erfahren, wie es sich anfühlt, dazu zu geh?ren. Ein Sprung, und ich schlie?e die Augen, stelle mir vor, endlich zu fliegen. Doch meine Fü?e heben sich kaum vom Boden, nur um sofort wieder zu landen. Mit ausgestreckten Armen bleibe ich regungslos stehen und lasse einen leisen Seufzer entweichen.
?Das ist doch ein schlechter Witz“, murmle ich entt?uscht. ?Selbst in meinen Tr?umen bin ich eine Gefangene.“
Und dann kommt mir wieder die weibliche Stimme in den Sinn, die mich hierhergeführt hat. Wo ist sie jetzt? Warum hat sie mich gerufen? An einen anderen Ort h?tte sie mich ohnehin nicht führen k?nnen. Ich war nie au?erhalb des Schlosses, mein ganzes Leben verbrachte ich hier. Seit dem Tod meiner Mutter, Isilyn, gilt mein Name im K?nigreich als gestrichen. Mein Vater, K?nig Mukuta Valdyris, h?lt mich im Schloss gefangen, und niemand kann etwas dagegen tun, denn für alle anderen existiere ich nicht mehr. Damals war ich zu jung, um die Beweggründe meines Vaters zu verstehen, doch ich ahne, dass sie mit seiner Ehe mit K?nigin Mayyira zu tun haben müssen. Diese Frau trat unmittelbar nach dem Tod meiner Mutter in mein Leben und ist nun schon seit zw?lf Jahren ein Teil davon. Sie hat auch dafür gesorgt, dass meine Freiheit drastisch eingeschr?nkt wurde. Was soll ich sagen? Seither sehne ich mich nach den k?niglichen G?rten, nach der frischen Luft und dem Gefühl von Gras unter meinen Fü?en nach einem regnerischen Morgen. Die Stimme, die mich hierhergeführt hat, muss die Bedeutung dieses Ortes für mich kennen.
Für einen Moment schlie?e ich die Augen und lausche dem Rauschen des Meeres. Wie würde es sich wohl anfühlen, wenn ich meine Fü?e ins Wasser tauchen würde?
?Vespera… es wird Zeit!“
Schon wieder! Was will diese Stimme von mir? Sie klingt mir zwar fremd, und doch... Moment! Ich habe sie doch schon einmal geh?rt, in meiner Kindheit... genau an diesem Ort! Hat sie mich deshalb hierhergeführt? Warum f?llt mir das erst jetzt wieder ein? Damals h?rte ich sie, als K?nigin Mayyira in mein Leben trat. Um ehrlich zu sein, kann ich mich kaum an meine Mutter erinnern. Wann immer ich versuche, an sie zu denken, erscheint mir nur eine leere Hülle. Mein Vater sagt, sie sei an einer unerkl?rlichen Krankheit gestorben, als ich zwei Jahre alt war. Durch die Ehe mit K?nigin Mayyira wurde mein Halbbruder, Kronprinz Yula, geboren. Ich wei? nicht, was mein Vater mit mir plant und warum er mich im K?nigreich für tot erkl?rt hat, aber diese Stimme muss in irgendeiner Weise damit verbunden sein. Vielleicht will er mich mit dem Sohn eines Lords aus einem fernen Land verheiraten, damit ich weitere Erben zeugen kann, falls Yula keine bekommt. Aber wie, wenn mich doch alle für tot halten?
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Ist es mein Schicksal, dass mein Vater für immer über mein Leben entscheidet? Gibt es keinen Ausweg?
?Vespera… du musst ausbrechen!“
Ausbrechen? Aber wie soll mir das gelingen? Ich bin in einer Welt gefangen, die nicht meine ist! Diese Traumwelt, in der ich mich befinde, ist schon schwer genug zu durchbrechen. In der realen Welt ist meine Tür zu allen Tageszeiten verschlossen, und der Schlüssel liegt bei K?nigin Mayyira. Ohne eine zugeteilte Begleitung darf ich keinen Schritt vor die Tür setzen. Ich kann nur in Jahren z?hlen, wann ich zuletzt in der Bibliothek war. Alle neuen Regeln, die K?nigin Mayyira seit ihrer Kr?nung erlassen hat, schr?nken mich in jeder Hinsicht ein. Ich habe ihr nie etwas getan, nie Ungehorsam gezeigt, und doch versuche ich seit all der Zeit, den Grund für ihren Hass mir gegenüber zu begreifen. Für meinen Vater ist sie das Ebenbild einer fürsorglichen Mutter.
W?hrend meine Gedanken weiter um all diese Probleme kreisen, genie?e ich gleichzeitig die kühle Brise der Sommernacht. Die Zeit an diesem Ort scheint in einem anderen Tempo zu vergehen – oder vielleicht ver?ndert sich die Szene so schnell, dass ich es kaum bemerke.
Pl?tzlich schl?gt ein Blitz direkt vor meinen Fü?en ein. Erschrocken ziehe ich die Knie an und blicke auf meine H?nde. Sie sind nun nicht mehr die eines Kindes… sondern meine. Die angenehme Abendluft verwandelt sich rasch in ein gewaltiges Gewitter. Der Regen beginnt in Str?men herabzufallen. Ich betrachte meine Hand, die von den Tropfen durchn?sst wird, und dann werfe ich den Kopf in den Nacken. Doch statt den Regen auf meinem Gesicht zu spüren, starre ich auf die Decke in meinem Zimmer. Bin ich zurück?
Aus dem Augenwinkel erhasche ich einen blitzartigen Lichtschein. Schlagartig springe ich aus dem Bett und schwinge meine Beine auf die Seite. Meine Fü?e berühren den kalten Marmorboden, und eine G?nsehaut durchf?hrt meinen K?rper. Ein weiterer Blitz schl?gt ein. Mit einer Mischung aus Faszination und Staunen bewege ich mich zum Fenster. So sehr ich den Sonnenschein liebe, noch mehr liebe ich das stürmische Wetter. Es hat etwas Lebendiges, Ungez?hmtes an sich.
Vertr?umt lehne ich mich an die Fensterbank, auf der ich normalerweise sitze und gedankenverloren die Welt betrachte. Heute jedoch fühlt sich alles anders an, und ich wei?, dass es mit dem Traum zu tun hat, der sich so real anfühlte. Ein weiterer Blitz durchzuckt den Himmel, und wie Adern breiten sich die Blitzkan?le über die Nacht. Der Tag war von drückender Hitze gepr?gt, und dieser Sturm bringt endlich die ersehnte Abkühlung. Doch dann passiert etwas Seltsames: Ein weiterer Blitz schl?gt ein, und in der Mitte des Himmels erkenne ich eine Gestalt, die hoch in der Luft zu schweben scheint.
Was tut diese Person da? Wie ist sie dorthin gelangt? K?nnen Menschen fliegen? Ich kann es jedenfalls nicht! Im Dienste des K?nigs stehen zwar Alchemisten, aber die k?nnen doch nur Tr?nke brauen, oder? Mein Vater hat mir nie erlaubt, solche Dinge zu erlernen.
?HEY!“, rufe ich in den tobenden Sturm. Die Wolken sind tiefschwarz, und meine Kleidung wird von den Regenstr?men in wenigen Sekunden v?llig durchn?sst. ?WIE BIST DU DA OBEN HINGEKOMMEN?“
Doch die Person reagiert nicht. Entweder d?mpft der Sturm meine Stimme, oder sie ignoriert mich absichtlich. Ich sehe, wie die Gestalt ihre Arme in seltsamen Bewegungen dreht, fast wie Schlangenlinien, und scheint den Sturm zu kontrollieren.
Trügen mich meine Augen? Ist diese Person wirklich für das Wetter verantwortlich? Wie hat sich diese Welt w?hrend meiner langen Isolation ver?ndert, dass pl?tzlich solche Kr?fte existieren? Gibt es nun Menschen, die solche F?higkeiten besitzen?
?Vespera…“
Die Stimme…! Kommt sie aus meinem Kopf oder von dieser fremden Gestalt? Ich muss mit ihr sprechen! Ich brauche Antworten! Aber ich kann mich doch nicht einfach aus dem Fenster lehnen. Was ist, wenn ich ausrutsche und falle? Mein Zimmer befindet sich fast im obersten Stockwerk, einen Sturz würde ich nicht überleben. Aber… was, wenn ich fliegen kann? Wie sie?
Vorsichtig lehne ich mich nach vorne. Mein linker Fu? ruht auf der Fensterbank, mein rechter schwebt bereits in der Luft. Zitternd halte ich mich an der Au?enwand des Schlosses fest. Der Regen prasselt mit hoher Geschwindigkeit in mein Gesicht und schr?nkt meine Sicht ein. Ich strecke die Hand nach der Gestalt am Himmel aus und merke, dass sie mich nun bemerkt. Gerade als sie dabei ist, ihren Kopf zu drehen, werde ich gewaltsam zurück in den Raum gezogen.
?Bist du lebensmüde?“, ert?nt die wütende Stimme meines Vaters. Mit zerzausten braunen Locken und seinen kleinen braunen Augen sieht er mich streng an. ?Muss ich wirklich ein Schloss ans Fenster anbringen?“
?Was ist hier nur los?“, fragt die K?nigin, die im selben Moment den Raum betritt. Ihre brünetten Haare sind in Lockenwickler gewickelt, und sie tr?gt ein seidenes, wundersch?nes Nachtkleid in Violett. Darüber eine dünne Jacke, mit der sie sich vor der K?lte zu schützen versucht. ?Kind, warum liegst du auf dem Boden? Diener, muss ich euch noch befehlen, der Prinzessin auf die Beine zu helfen?“
Die Bediensteten treten ein und helfen mir wortlos auf. Mein Vater verschr?nkt die Arme und schüttelt müde den Kopf. Ich liege wieder unter meiner Decke, aber meine Augen bleiben auf das Fenster gerichtet, wo erneut ein Blitz einschl?gt. Die Anwesenheit des K?nigs und der K?nigin sind mir im Moment v?llig egal. Doch als mein Vater das Fenster mit einem lauten Knall schlie?t, lenke ich meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn.
?Dein Vater ist anwesend, und du starrst immer noch aus dem Fenster?“, brüllt er zornig, und sein wei?es Gesicht wird rot vor Wut. Wieder ist er ohne ersichtlichen Grund aufgebracht. ?Wir sind aus einem besonderen Anlass zu dieser sp?ten Stunde hier!“
?Zum Glück sind wir rechtzeitig eingetroffen!“, fügt K?nigin Mayyira mit strengem Unterton hinzu.
Rechtzeitig? Mein Vater hat mich in den Raum gezogen, ?wir“ waren nicht gemeinsam hier. Die K?nigin kam erst sp?ter.
Seufzend erkl?rt mein Vater: ?Morgen findet eine gro?e Feier statt. Zu Ehren deines achtzehnten Geburtstags. Ich m?chte, dass du dich vorbildlich verh?ltst, da wichtige G?ste kommen werden, die dich kennenlernen wollen.“
?Aber…“, beginne ich und runzle verwirrt die Stirn, ?glauben nicht alle, dass ich vor Jahren gestorben bin?“
Er winkt mit der Hand. ?Das l?sst sich leicht arrangieren. Du warst die ganze Zeit über bei deiner Gro?mutter Gaina, und um deine Erziehung zu f?rdern, haben wir beschlossen, dich für die ?ffentlichkeit als tot zu erkl?ren.“ – Nachvollziehbar.
Meine Gro?mutter? Gaina Syldrakon, die Mutter von K?nigin Mayyira, hat keinerlei famili?re Verbindung zu mir. Trotzdem will ich mir die Gelegenheit auf eine Feier unter Menschen nicht entgehen lassen. Vielleicht werden S?hne von Lords dabei sein, die gute Beziehungen zu meinem Vater haben. Vielleicht finde ich einen, der sich in mich verliebt – dann k?nnte ich diesem Alptraum entkommen!
?Deine Mutter wird morgen früh in deinem Zimmer stehen“, verkündet er. ?Sie wird dafür sorgen, dass du die Prinzessin Vespera bist, die der K?nigsfamilie Valdyris würdig ist.“
Ich kann kein Wort sagen. Was soll ich auch antworten? Für meinen Vater bin ich nur eine Schachfigur, die für einen cleveren Zug auf dem Spielfeld verwendet wird. Doch als er mir pl?tzlich ein warmes L?cheln schenkt und sanft meine Wange streichelt, erkenne ich etwas Neues in seinen Augen.
?Meine liebe Tochter hat mich noch nie entt?uscht“, sagt er, w?hrend er seine Hand auf meinen Haaransatz legt. ?Du wirst mich sicher stolz machen.“
Meint er das wirklich, oder spielt er ein weiteres Spiel mit mir? Es ist egal, was es ist – es macht mich glücklich. Ist dies jenes v?terliche Gefühl, nach dem ich mich all die Zeit gesehnt habe?
?Natürlich, Vater“, antworte ich l?chelnd.