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Kapitel 2: Das letzte Lied

  Ich sa? in der hintersten Reihe des Auditoriums, und mein Herz pochte in meiner Brust. Die abgestandene, muffige Luft im Raum machte das Atmen schwer. Das ged?mpfte Rascheln von Papier und gelegentliches Husten erfüllten die Luft und verst?rkten mein überw?ltigendes Gefühl der Enge. Ich hatte meine Medikamente heute wie immer pünktlich eingenommen, aber die pl?tzliche Versammlung hatte mich überrascht, und jetzt schienen sich die W?nde um mich herum zu schlie?en.

  “Du schaffst das”, murmelte ich und versuchte, mich selbst zu motivieren. “Geh einfach zur Tür.”

  Ich stand auf wackeligen Beinen und schlurfte zum Gang. Mr. Thomas stand Wache an der Tür und zog die buschigen Augenbrauen zusammen, als ich mich n?herte.

  “Notfall”, flüsterte ich. Er hatte mich schon einmal so gesehen, und nach einem Moment des Z?gerns nickte er und trat zur Seite.

  Der Flur erstreckte sich vor mir, herrlich leer, und bot mir einen Moment lang Zuflucht vor der erdrückenden Menschenmenge. Ich machte mich auf den Weg zur Toilette, wo mein Spiegelbild einen Fremden zeigte – blasses Gesicht, erweiterte Pupillen, Schwei?perlen auf der Stirn. Ich versuchte, mich an die Atemübungen meines Therapeuten zu erinnern, aber sie halfen kaum. Ich wünschte, ich h?tte meine Notfallmedikamente dabei, anstatt sie zu Hause in der Schublade meines Nachttisches zu lassen.

  Ich konnte nicht zur Versammlung zurückkehren und schlich mich in den Innenhof. Eine leichte Brise trug Herbstbl?tter über den Bürgersteig, als ich eine abgelegene Bank unter einer alten Eiche fand. Die ?ste erstreckten sich über mir und boten ein tr?stliches Bl?tterdach, das das Nachmittagslicht filterte. Die Zeit schien stillzustehen, als ich dort sa? und die Stille der Natur auf mich wirken lie?.

  Der Rest des Schultages verging wie in einem verschwommenen Dunstschleier. Beim Mittagessen knurrte mir der Magen, also suchte ich Zuflucht in der Bibliothek. Frau Chen, die Bibliothekarin, warf mir einen wissenden Blick zu, sagte aber nichts. Die Musik aus meinen Ohrh?rern bildete einen Schutzschild, der das Chaos in meinem Kopf übert?nte.

  Als die letzte Schulglocke l?utete, ertrug ich die Busfahrt nach Hause, z?hlte die Haltestellen und konzentrierte mich auf meine Musik. Schlie?lich erreichte ich unseren Hobbybauernhof – meinen Zufluchtsort. Das vertraute Knirschen des Kieses unter meinen Fü?en und der Anblick unserer verwitterten roten Scheune spendeten sofort Trost. Hier konnte ich wieder durchatmen.

  Das Scheunentor ?ffnete sich knarrend und Bessie, unsere ?lteste Ziege, begrü?te mich mit einem begeisterten Bl?ken. Ich erledigte meine Aufgaben mit geübter Leichtigkeit und fand Trost in der Routine. Frischwasser, Heu und Futter – jede Aufgabe half mir, im Hier und Jetzt verankert zu bleiben. Daisy, unsere alte Stute, h?rte mir geduldig zu, w?hrend ich ihr von meiner Panikattacke am Morgen erz?hlte, und stupste mich gelegentlich mit ihrer samtigen Nase an der Schulter. Ich strich mit dem Striegel über ihr Fell und lie? die rhythmische Bewegung meine Nerven beruhigen.

  Als der Abend hereinbrach, setzte ich mich mit meiner Gitarre auf die Stufen der hintere Veranda. Meine Finger fanden ganz natürlich die Saiten und eine neue Melodie entstand aus den turbulenten Emotionen des Tages:

  Gefangen, doch nun frei wie der Wind,

  Die Welt entf?llt, der Horizont verschwimmt.

  In Einsamkeit fliegt mein Herz so weit,

  Ein stiller Funke in der endlosen Zeit.

  Sp?ter, beim Abendessen, dr?ngte mich meine Familie nicht zum Reden. Sie machten mir einfach Platz am Tisch und führten leise Gespr?che. Manchmal waren die kleinsten Gnaden die gr??ten Segnungen – wie eine Familie, die Verst?ndnis zeigte, Tiere, die akzeptierten, und Musik, die heilte.

  Der morgige Tag würde seine eigenen K?mpfe mit sich bringen, aber heute Abend, in diesem Moment, war ich in Ordnung. Und manchmal war das alles, worum ich bitten konnte.

  Die ersten Anzeichen von ?rger zeigten sich beim Frühstück, zwei Wochen nach meiner Panikattacke in der Aula. Papa sa? am Küchentisch, den Kaffee unberührt, und starrte auf sein Handy. “Ein weiterer Fall in Landsberg am Lech”, murmelte er. ?Das macht fünfzehn diese Woche.” Ich schob mein Müsli in der Schüssel herum und h?rte nur halb zu, w?hrend meine Eltern über einen neuen Virus sprachen, der Schlagzeilen machte. Damals schien es weit weg zu sein, nur eine weitere Geschichte, die zwischen Promi-Klatsch und Wetterberichten begraben lag.

  Aber die Dinge ?nderten sich schnell. Mit sorgenvoller Miene fügte meine Mutter ihrer Einkaufsliste zus?tzliche Artikel hinzu – Konserven, getrocknete Bohnen, Reis. Mein Vater verbrachte seine Mittagspausen am Telefon mit der Bank. Sogar meine Medikamente mussten pl?tzlich mit einer Woche Vorlauf bestellt werden, aufgrund von “Problemen in der Lieferkette”. In der Schule flüsterten die Kinder in den G?ngen. Kinder, deren Eltern im Gesundheitswesen arbeiteten, erz?hlten von überlasteten Notaufnahmen. Mrs. Reynolds sagte unseren bevorstehenden Ausflug ohne Erkl?rung ab.

  Unsere Kleinstadt ver?nderte sich von Woche zu Woche. Auf der Hauptstra?e wurde es immer ruhiger, und in immer mehr Schaufenstern tauchten Schilder mit der Aufschrift “Vorübergehend geschlossen” auf. Der Lebensmittelladen führte eine Rationierung ein, und der Futtermittelh?ndler, bei dem wir Vorr?te für den Bauernhof kauften, verdoppelte über Nacht seine Preise. Mein Vater begann, die Schl?sser an der Scheune und im Futterraum zu verst?rken, was er noch nie zuvor getan hatte.

  Zu Hause bereiteten wir uns vor. Mama verwandelte unseren Keller in ein Lagerhaus, in dem die Regale unter dem Gewicht der Notvorr?te ?chzten. Papa installierte Solarmodule und einen Notstromgenerator. Emily und mir wurden bestimmte Aufgaben zugewiesen. Sie half Mama bei Aufgaben im Haus, w?hrend ich Papa bei der Sicherheit im Freien und der Tierpflege unterstützte. Ich stürzte mich in das Erlernen nachhaltiger landwirtschaftlicher Praktiken und versuchte, meine Angst in etwas Nützliches umzuwandeln.

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  Die Tiere spürten die ver?nderte Atmosph?re. W?hrend der abendlichen Stallarbeit scharrte Daisy, mein Lieblingspferd, unruhig in ihrem Stall. Sogar die Hühner schienen wachsamer zu sein und scharten sich zusammen, wenn Flugzeuge über sie hinwegflogen. Die Natur selbst schien uns zu warnen, dass etwas kommen würde.

  Den ganzen Tag über war auf unserer ruhigen Landstra?e mehr Verkehr als sonst – unbekannte Fahrzeuge bewegten sich zu schnell, ihre Motoren heulten. Mein Vater stand stundenlang am Fenster, und bei jedem vorbeifahrenden Auto spannte sich sein Kiefer an. Die Nachrichten brachten Berichte über Unruhen in den umliegenden St?dten, zeigten Bilder von brennenden Autos und panischen Menschenmengen. Als die Dunkelheit hereinbrach, heulten in der Ferne Sirenen, und gelegentlich hallten Schüsse durch das Tal.

  Als mein Vater damit begann, die Fenster mit Brettern zu vernageln, und das dumpfe Ger?usch des Hammers auf den N?geln wie ein Countdown klang, wussten wir, dass es ernst war. Ich sa? im Wohnzimmer und klimperte ziellos auf meiner Gitarre. Jeder Akkord fühlte sich an wie ein Abschied von der Welt, wie wir sie kannten.

  Die Motoren, die wir als N?chstes h?rten, waren anders – zielstrebig, bedrohlich. Kies knirschte unter schweren Reifen, als Fahrzeuge an unserem Haus vorfuhren. “Alle runter”, flüsterte Papa und führte uns hinter die Küchentheke. Wir kauerten zusammen, wir vier, w?hrend mein Herz in meiner Brust donnerte. Durch die Lücken in den Brettern warfen Scheinwerfer lange Schatten auf unsere Familienfotos.

  “Wir müssen uns aufteilen”, sagte Papa mit vor Angst belegter Stimme. “Mama, bring Emily durch den Kellertunnel. Brendan und ich werden sie von euch wegführen und dann zurückkommen.” Ein Krachen an unserer Haustür unterbrach seine n?chsten Worte. Emily wimmerte und Mama zog sie n?her an sich.

  “Beim Treffpunkt”, fuhr Papa schnell fort. “Zwei Stunden. Wenn jemand nicht da ist, versuchen wir es bei Tagesanbruch noch einmal.” Seine Augen trafen meine und zeigten etwas, das ich noch nie zuvor gesehen hatte – pure Angst.

  Danach ging alles ganz schnell. Die Tür gab mit einem donnernden Krachen nach. Mama und Emily schlüpften in den Keller, w?hrend Papa und ich durch die Hintertür in die Nacht stürmten. Die kühle Luft brannte in meinen Lungen, als wir auf die Scheune zuliefen und die Lichtkegel der Taschenlampen die Dunkelheit hinter uns durchschnitten.

  “Wir trennen uns!”, rief Dad. “Ich lenke sie ab – du l?ufst zum Treffpunkt! ” Er bog nach links ab, w?hrend ich weiter geradeaus lief. Die meisten Schritte folgten ihm – er war sichtbarer, deutlicher. Klug. Er würde sie im Wald abh?ngen und umkehren.

  Ich schaffte es bis zur Scheune, drückte mich gegen die Wand und versuchte, meinen rauen Atem zu beruhigen. Durch die Latten beobachtete ich, wie Taschenlampen in der Ferne tanzten, w?hrend sie Papa verfolgten. Dann durchschnitt Emilys Schrei die Nacht, hoch und voller Angst. Sie hatten den Kellereingang gefunden.

  Ich wollte mich bewegen, zurücklaufen, aber Stimmen n?herten sich der Scheune. In die Enge getrieben kletterte ich auf den Heuboden, w?hrend drau?en Schritte knirschten. Aus dem Wald kamen drei scharfe Schüsse, von denen sich jeder wie ein k?rperlicher Schlag anfühlte.

  “Wir haben sie!”, rief eine Stimme aus dem Haus. “Zwei Frauen – Mutter und Tochter! ” Sie lebten, zumindest im Moment, aber sie waren gefangen.

  Ich sprang aus dem Heubodenfenster und rollte mich ab, um den Aufprall abzufedern. Ich rannte zum Schuppen und fand mein Motorrad und Papas Gitarre. Die Gitarre h?tte damals keine Rolle spielen dürfen, aber ich konnte sie nicht zurücklassen. Jeder Kratzer und jede Delle barg eine Erinnerung: Unterricht sp?t in der Nacht, Lieder am Lagerfeuer, das stolze L?cheln auf seinem Gesicht, als ich endlich “Knockin' on Heaven's Door” beherrschte. Ich schnappte mir den Notfallrucksack, den mein Vater mir für alle F?lle zusammengestellt hatte und mit dem er mich so oft auf den Ernstfall vorbereitet hatte, dass ich ihn mit verbundenen Augen finden konnte.

  Der Motor des Motorrads erwachte zum Leben, als die Scheinwerfer den Schuppen durchfluteten. Ich schoss wie eine Kugel los; die Gitarre schwang gegen meinen Rücken, als ich an überraschten Angreifern vorbeischoss. Da ich auf dem Bauernhof aufgewachsen war, war dieses Gel?nde ein Teil von mir – jede Unebenheit, jede Kurve war Muskelged?chtnis. Ich fuhr durch den Apfelhain und schl?ngelte mich zwischen den B?umen hindurch, w?hrend die ?ste an mir vorbeipeitschten.

  Als ich den Rand unseres Grundstücks erreichte, riskierte ich einen Blick zurück. Der Horizont leuchtete orange und rot, Flammen verschlangen die überreste meines Zuhauses, der bei?ende Geruch von Rauch brannte in meiner Nase. Jedes Fenster flammte in h?llischem Licht und verschlang die W?nde, die uns beschützt hatten, die R?ume, in denen wir gelebt, gelacht und geliebt hatten. Ein Schluchzen entrang sich meiner Brust, aber ich konnte nicht anhalten.

  Ich fuhr durch die Nacht, die dunkle Weite der Stra?e erstreckte sich endlos vor mir. Papas Gitarre drückte gegen meinen Rücken, w?hrend der Wind meine Tr?nen wegtrug. Als die Ersch?pfung mich zu überw?ltigen begann, fand ich eine verlassene Tankstelle, deren dunkle Fenster und leere Zapfs?ulen mit Staub bedeckt waren.

  Ich lie? mich gegen die kühle Betonwand fallen und gab mich schlie?lich meiner Trauer hin. Bilder meiner Familie stürmten auf mich ein – Papas stolzes L?cheln, Mamas herzliche Umarmung, Emilys unschuldiges Lachen bei unseren improvisierten Wohnzimmerkonzerten. Alles vorbei. Alles in einer Nacht der Gewalt gestohlen.

  Mit zitternden H?nden griff ich nach der Gitarre und zog sie auf meinen Scho?. Meine Finger bewegten sich instinktiv und zupften eine sanfte, traurige Melodie. Die Melodie schwebte durch die Luft und erfüllte die Stille mit etwas anderem als Verzweiflung. Es war ein Lied für meine Familie, für das Leben, das ich verloren hatte – eine Balade für die Welt, die in Flammen aufgegangen war.

  Als die Musik verklang, stand ich auf und h?ngte mir die Gitarre wieder über die Schulter. Meine H?nde zitterten immer noch, als ich mich auf den Lenker stützte, aber das vertraute Brummen des Motors spendete mir ein wenig Trost. Die aufgehende Sonne warf ein grelles Licht auf die karge Landschaft, als ich ins Unbekannte hinausfuhr. Die Welt hatte mir alles genommen, aber nicht meinen Lebenswillen. Und das musste reichen.

  Die Gitarre schwang sanft auf meinem Rücken, und erinnerte mich daran, wer ich war und woher ich kam. In dem abgenutzten Holz und den Saiten lebten die Erinnerungen an bessere Tage – Tage mit Familienessen und Musikunterricht, mit Lachen und Liebe. Diese Erinnerungen mussten mich jetzt stützen, w?hrend ich auf das zufuhr, was von der Welt, die wir verloren hatten, noch übrig war.

  Und in der Einsamkeit der Fahrt begannen sich die Worte zu der Ballade in meinen Gedanken zu formen:

  Als ich dahinfuhr, verloren in der Nacht,

  Die Erinnerungen blitzen, was ich einst gemacht.

  Meine Familie, mein Heim, alles verloren,

  In dieser Stille, selbst das Licht scheint gefroren.

  Jeder Ton ein Nachklang aus besserer Zeit,

  Sie tragen mich weiter, durch die Einsamkeit.

  So fahre ich dahin, mit der Last auf dem Herzen,

  Doch die Melodie webt Trost und lindert die Schmerzen.

  In jeder Note erkenne ich die guten Sachen,

  Es bleiben die Erinnerungen, die mir Freude machen.

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