Die Worte von Zyar sind vollkommen absurd! Welchen Grund sollte der Sonatius Mortaeda haben, eine Welt zu zerst?ren, in der auch er selbst existiert?
?Aber der Sonatius Mortaeda ist ein Teil von Elindros!“, entgegne ich laut, in der Hoffnung, dass seine Antwort mir Klarheit bringt. ?Das ergibt keinen Sinn!“
Zyar lacht leise. Sein Blick ist kalt, beinahe mitleidig. ?Der Sonatius Mortaeda ist an keine Dimension gebunden. Auch nicht an Elindros.“
?Wenn er an keinen Ort gebunden ist, warum bleibt er dann seit Jahrhunderten in Elindros?“, frage ich verwirrt. Mein Blick wandert zu den Kairon, die, genau wie Aetherion, scheinbar immer dasselbe tun. Sind auch sie freiwillig hier? ?Was h?lt ihn hier, wenn er frei ist?“
Zyar zuckt mit den Schultern. Seine Gleichgültigkeit ist erschreckend. Er wirkt so anders als damals, als er sich im Schloss gegen meine Eheschlie?ung einsetzte. Jetzt scheint er überhaupt nicht mehr sympathisch. ?Der Sonatius Mortaeda besitzt jede Macht und jede F?higkeit, die es in allen Dimensionen gibt. Seine Beweggründe sind uns Elindine unverst?ndlich. Doch ich bin sicher, du wirst ihn selbst danach fragen k?nnen – sobald du sein Gef?? bist.“
Ein Schauder durchl?uft mich. Es ist ihm bewusst, dass ich diese Rolle nicht annehmen will, und dennoch sagt er so etwas? Es bringt nichts, mit ihm darüber zu diskutieren. Er wird mich nicht verstehen.
?Das bedeutet … er kann also auch nicht sterben“, murmle ich, halb zu mir selbst. Ein ewiges Leben. Welch einsames Dasein – genauso wie das von Aetherion. Wenigstens haben die Kairon einander.
Zyar nickt. Zum ersten Mal gibt er mir eine klare Antwort. ?Ein ewiges Leben, in der Tat.“
?Das muss unertr?glich einsam sein.“ Der Gedanke rutscht mir heraus, bevor ich ihn zurückhalten kann. ?Auch Aetherion ist seit Jahrhunderten im Astralis gefangen. Einsam, ohne Sinn. Das ist nicht fair.“
Ich sehe Zyar nachdenklich an. Kann ein solches Leben wirklich Freude bereiten, oder ist es in Wahrheit eine ewige Qual? Sein Lachen rei?t mich aus meinen Gedanken – ein kurzes, kaltes Lachen.
?Oh, wie du dich irrst“, sagt er kopfschüttelnd. ?In seiner Unsterblichkeit hat der Sonatius Mortaeda zahllose Leben getroffen. Wir Elindine scheinen ihm die interessantesten Wesen zu sein. Das ist vermutlich der Grund für seinen langen Aufenthalt in Elindros. Für ihn ist das Spiel mit den Leben der Losniw ein Vergnügen. Ein grausames Vergnügen. Das Gef?? eines solchen Monsters zu sein, ist eine Tortur. Je mehr das Gef?? leidet, desto glücklicher wird der Sonatius Mortaeda. Denk an deine Zeit im Schloss zurück. Mayyira Valdyris war immer erfreut, dich am Boden zu sehen. Glaubst du nicht, dass genau das der Grund war, warum sie dich nicht fortgeschickt hat, sondern immer unter Kontrolle hielt? Manche Wesen – Menschen, Elindine oder Urwesen wie der Sonatius Mortaeda – n?hren sich von der Pein anderer. Verstehst du das?“
Ich schlucke. Seine Worte sind hart, aber sie treffen die Wahrheit. Die K?nigin behandelte mich schlecht, weil sie daran Gefallen fand. Ihr Herz war voller Bosheit – Bosheit, die nur mir galt.
?Wie wird entschieden, an wen die Bürde weitergegeben wird?“, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne.
Zyar verschr?nkt die Arme und seufzt. ?Sobald ein Gef?? zu alt und schwach ist, um die Kr?fte des Sonatius Mortaeda zu tragen, wird die Kraft an die n?chste Auserw?hlte weitergegeben. Ein endloser Zyklus.“
Ein Stich f?hrt durch mein Herz. Kann ich im Alter ein ruhiges Leben führen, wenn ich dieser Bestimmung nicht entkommen kann? Doch wie k?nnte ich mit meinem Gewissen leben, wenn ich wüsste, dass eine andere Losniw meine Last übernimmt? ?Das hei?t, wenn ich alt bin, werde ich befreit?“
Mein Blick f?llt kurz auf Sylas, der bedrückt zu Boden sieht. Er überl?sst das Reden seinem Vater. Zyar schüttelt entschieden den Kopf. Die K?lte in seinen Augen ist unerbittlich. ?Die Weitergabe der Kraft des Sonatius Mortaeda bedeutet den Tod für das Gef??. Vespera, deine Lebenszeit endet mit der Erfüllung deiner Aufgabe.“
?Aufgabe? Das nennst du eine Aufgabe?“, schreie ich zornig. Die Wut übermannt mich, und ich kann sie nicht mehr zurückhalten. ?Das ist keine Aufgabe, das ist eine Bürde! Ich werde gezwungen, das Gef?? eines Urwesens zu sein! Warum hat meine Mutter mir diese Last auferlegt? Welche Mutter tut so etwas? War ich ihr nicht wichtig genug? Zyar, antworte mir! Du kanntest meine Mutter. Du musst es wissen!“
?Ich kann dir nicht sagen, warum Isilyn diese Entscheidung getroffen hat“, sagt Zyar, doch seine Augen meiden meine. Er verbirgt etwas, das spüre ich eindeutig. ?Als sie damals zu mir kam, um mir das Astralis zu übergeben, hatte ich keine Ahnung, dass ich sie die n?chsten 18 Jahre nicht mehr sehen würde. Und nun stehst du hier… Vespera, du siehst deiner Mutter zum Verwechseln ?hnlich.“
?Das ist mir im Moment v?llig egal!“, zische ich wütend zurück. Doch tief in mir trifft seine Bemerkung einen Nerv. Zu wissen, dass ich meiner Mutter ?hnlich bin, gibt mir wenigstens einen Anhaltspunkt, wie sie wohl ausgesehen haben k?nnte. Ob sie wirklich tot ist, bleibt aber fraglich. Wer wei?, vielleicht hat mich K?nig Mukuta all die Jahre nur belogen. ?Ich kenne dieses Reich Losnat nicht, aber ich würde niemals einem unschuldigen Elindine Schaden zufügen!“
?Unschuldig?“, wiederholt Zyar mit einem sp?ttischen Lachen. ?Du hast keine Ahnung von diesem Dorf Losnat und seinen Bewohnern.“
?Richtig!“, antworte ich, meine H?nde zittern. ?Ich wei? nicht, wer die Losniw sind oder wie sie sind! Aber das rechtfertigt doch kein Leid!“ Zyar, der mich bis jetzt mit ungerührtem Blick angestarrt hat, wirft mir nun einen Blick voller Hass zu. Kein Wunder – schlie?lich geh?re ich ebenfalls zu diesem Reich Losnat. ?Die Losniw haben gelitten, für ein Ziel, das auch nach Jahrhunderten weiterhin unerreichbar ist! Wie viele Gef??e müssen noch ihr Leben für diesen Frieden opfern – der, nebenbei bemerkt, seit Jahrhunderten nicht gewahrt werden kann?“
?So viele wie n?tig“, erwidert Zyar kalt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Es ist ihm v?llig gleichgültig, wie viele Losniw ihr Leben lassen müssen. ?Hast du jemals darüber nachgedacht, welchen Schaden diejenigen Elindine anrichten k?nnten, die die Kraft des Sonatius Mortaeda für ihre eigenen Zwecke missbrauchen würden, wenn sich die Losniw nicht als Gef??e zur Verfügung gestellt h?tten? Dann w?re nicht nur Elindros in Gefahr, sondern auch die Menschenwelt – vielleicht sogar das Nexari! Bist du dir bewusst, dass selbst die Synnx vor diesem Urwesen zittern?“
Selbst die Synnx…? Wie kann ein einziges Wesen solchen Schrecken verbreiten? ?Jedes Lebewesen hat seine Bestimmung. Sei es Aetherion, die Kairon oder die Losniw. Sie alle existieren aus einem einzigen Grund. Auch du, Vespera. Warum etwas ?ndern, wenn es l?uft?“
Was ist das für eine Ansicht? Habe ich tats?chlich diesen Mann noch im Schloss bewundert? Zyar Velqorin? Was für ein Narr ich doch war.
?Dann erkl?r mir eines“, sage ich und balle die F?uste. Ich k?mpfe mit aller Kraft gegen die Wut an, die in mir brodelt. Sylas hat sich zurückgezogen und verfolgt schweigend das Gespr?ch. Langsam wird mir auch klar, dass er in der N?he seines Vaters seltsam verhalten ist. ?Wie hat meine Mutter es geschafft, sich gegen diese Bürde zu wehren? Warum wurde sie nicht zum Gef?? des Sonatius Mortaeda gemacht, wie ich?“
Zyar sieht mich mit einem Blick an, der mir unverkennbar signalisieren soll, dass die Antwort direkt vor meiner Nase liegt.
?Isilyn hat damals ihre Bürde an ihr Ungeborenes weitergegeben. Deine Mutter wurde im Alter von 21 Jahren zum neuen Gef??. Schon bei Isilyns Geburt war klar, dass sie eines Tages diesen Weg gehen würde. Auch sie hatte – genau wie du – gro?e Angst davor. Wenige Monate, nachdem ich deine Mutter vor 18 Jahren das letzte Mal gesehen hatte, erschienen in Elindros erneut drei Monde am Himmel. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass sie nicht mehr das Gef?? sein konnte. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht mit Sicherheit, dass sie mit dir schwanger war … Es war eher eine vage Vermutung. Deshalb habe ich die letzten Jahre damit verbracht, dich in den verschiedenen Dimensionen zu suchen. Schlie?lich bin ich in der Welt der Menschen gelandet, wo ich eine au?ergew?hnlich starke Pr?senz gespürt habe – deine.“
?Was genau meinst du damit?“, frage ich verwirrt, w?hrend ich die Arme vor der Brust verschr?nke. Ich ignoriere den Teil, dass er andere Dimensionen bereist hat – das erscheint mir gerade nebens?chlich. Doch wenn er über meine Mutter spricht, wirkt er wie ein v?llig anderer Elindine.
?In einer Dimension wie Elindros ist es viel schwieriger, die Pr?senz einer einzelnen Person zu spüren“, erkl?rt Zyar bestimmt. ?Doch in der Menschenwelt hast du wie ein kleines Licht in der Dunkelheit gestrahlt.“
?Und wenn meine Mutter nicht mehr das Gef?? ist, dann … ist sie tot“, schlussfolgere ich traurig. ?Schlie?lich endet die übergabe dieser Kraft immer mit dem eigenen Tod.“
Zyar nickt und fügt hinzu: ?Ich habe damals nur deine Pr?senz wahrnehmen k?nnen. H?tte sich Isilyn irgendwo in der Menschenwelt versteckt, w?re mir das nicht entgangen.“
Meine Welt ger?t ins Wanken. Meine Mutter – die Frau, die mich mehr als alles auf der Welt h?tte lieben sollen – hat diesem uralten Wesen die Erlaubnis erteilt, meinen K?rper als Gef?? zu benutzen! Ich kann ihr nicht einmal meinen Zorn entgegenwerfen, weil sie nicht mehr lebt.
?Warum hat sie den Tod gew?hlt?“, flüstere ich. Die Frage richtet sich mehr an mich selbst als an meine Gef?hrten. ?H?tte sie dem Sonatius Mortaeda weiterhin als Gef?? gedient, w?re sie vielleicht noch bei mir … und ich h?tte nicht mit dem K?nig und seiner abscheulichen Frau leben müssen.“
Die Tr?nen steigen in mir auf, doch ich weigere mich, sie zuzulassen. Schw?che kommt nicht mehr in Frage. Ich vertraue Zyar nicht – v?llig egal, wie sehr er sich für meine Mutter zu interessieren scheint. Und selbst wenn meine Mutter noch lebte, k?nnte ich ihr jemals wieder vertrauen? Sie hat mich mit dieser Bürde allein gelassen!
?Für jede Entscheidung in unserem Leben gibt es einen Grund“, sagt Zyar ruhig. ?Auch, wenn er manchmal egoistisch ist. Ich glaube nicht, dass der Sonatius Mortaeda eine weitere übergabe akzeptieren würde. Und ich wei? nicht einmal genau, wie es beim ersten Mal ablief. Ich kann nicht sagen, wie Isilyn es geschafft hat, sich davon zu l?sen.“
Irgendwie glaube ich nicht, dass er mich in dieser Hinsicht anlügt oder mir etwas verschweigt. Aber es bleiben einfach viel zu viele Fragen offen. Wer wird sie mir beantworten k?nnen? Der Sonatius Mortaeda, dem ich irgendwann gegenübertreten muss, um mein Schicksal zu akzeptieren?
?Ich verstehe es einfach nicht…“, flüstere ich verst?ndnislos. ?Warum hat mir meine Mutter so etwas angetan?“
?Ich wei? es nicht“, gibt Zyar leise zu, als h?tte er sich gerade eine unsichtbare Last von den Schultern genommen. ?Deine Mutter und ich… wir waren einmal enge Vertraute. Sie war die st?rkste Kriegerin des K?nigs Rynmar Feroy. An seiner Seite stand sie unerschütterlich. Ihr Verschwinden war ein tiefer Schmerz für den K?nig, dem sie loyal war. Jedenfalls habe ich das geglaubt.“
Im K?nigreich? Meine Mutter war eine Kriegerin? Wie kann ich mir das vorstellen? ?Wo war dieses K?nigreich? Und was hat dich damals dorthin geführt? Warum bist du heute nicht mehr dort?“
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Zyar atmet tief ein. Er hatte vermutlich nicht damit gerechnet, dass die Tochter seiner alten Freundin so viele Fragen stellen würde. Wahrscheinlich dachte er, ich würde ohne Widerworte alle seine Befehle befolgen, einfach weil mein früheres Leben nicht anders war.
?Du hast sicher bemerkt, dass Sylas und ich besondere F?higkeiten besitzen“, sagt er und ich nicke zustimmend. ?Nun, wir Solniws k?nnen eine bestimmte Anzahl an Elementen beherrschen. Du erinnerst dich sicher daran, dass Sylas mich bei seinem Schwur den ?Legaten der Elemente‘ genannt hat.“ Ich nicke erneut. ?Unter den Solniws gibt es nur wenige, die alle Elemente beherrschen k?nnen. Ich bin der Einzige, der das derzeit kann. Damals, als ich das erste Mal mehr als zwei Elemente beherrschen konnte, wurde ich von unserem Dorfoberhaupt, Soran Vaylon, zum damaligen K?nig geschickt, da dies ein direkter Befehl war. Unser jetziger K?nig Valron Feroy ist nur ein paar Jahre ?lter als ich, zu der Zeit regierte jedoch noch sein Vater, Rynmar Feroy. Dieser starb letztes Jahr im Alter von 89 Jahren, und so wurde sein ?ltester Sohn – unser jetziger K?nig – im Alter von 57 Jahren gekr?nt. Ich wei? nicht, wie die anderen Elindine die Feroy-Familie sehen, aber für mich sind sie alle ?u?erst herrschsüchtig. Vielleicht sind sie für diese Position tats?chlich perfekt geschaffen. Jedenfalls sorgte Rynmar Feroy dafür, dass alle, die Kr?fte besa?en, die über denen der anderen standen, zu ihm gebracht wurden. So wurde ich im Alter von 16 Jahren ausgebildet, der Legat der Elemente zu werden. Vor meiner Zeit gab es noch eine Handvoll Solniws, die diesen Titel trugen. Die Ausbildung fand unter der Hand des Throns statt, bei Eryndor Veldric. In der Menschenwelt nennt man solche Leute die rechte Hand des K?nigs. Ein Mann, der weder ein Element beherrscht noch die Werte der Solniws versteht. Doch h?tte ich mich geweigert, h?tte ich nur mein erstes Element – Luft – nutzen dürfen.“
Ob mein Vater so einen Mann an seiner Seite hatte? Ich kann es mir gut vorstellen, doch gesehen habe ich nie jemanden. Wie auch, wenn ich die ganze Zeit in meinem Zimmer verbrachte? Die Freiheit, die mir seit meiner Flucht zuteilwurde, ist mir so zu Kopf gestiegen, dass ich für einen Moment meine Vergangenheit vergessen habe.
Eine düstere Erkenntnis überkommt mich. Der K?nig… kann er wirklich bestimmen, welche Kr?fte ein Solniw nutzen darf? Was für ein Recht hat er, über die F?higkeiten eines anderen Wesens zu verfügen? Ist es Angst, die den damaligen K?nig zu so etwas trieb? Die Fragen h?ufen sich in meinem Kopf wie Sturmwolken vor einem Unwetter.
?Wie viele Elemente gibt es in Elindros?“, frage ich, w?hrend meine Gedanken immer schneller kreisen.
Zyar hebt einen Finger und fordert mich auf, innezuhalten. Ein Moment vergeht. Sylas beobachtet uns aus der Ferne, ohne mehr Klarheit zu haben als ich selbst.
Zyar geht langsam weiter, seine Schritte führen ihn durch das weitl?ufige Anwesen, vorbei an dem glitzernden Teich. Die Kairon ziehen tr?ge ihre Bahnen, als würde selbst die Natur das Schweigen teilen, das uns umhüllt.
?Ist es weise, die Kairon unbeaufsichtigt zu lassen?“, frage ich besorgt.
Sylas’ Antwort folgt sofort: ?Sie zeigen sich nicht jedem, das wei?t du. Doch auch in Solnya, wo die Bewohner vertrauenswürdig erscheinen, gibt es Schatten. Falsche Gesichter lauern an jeder Ecke. Daher sage ich dir: Sprich niemals über die Kairon, über Aetherion oder den Sonatius Mortaeda. Du hast 18 Jahre unter Menschen gelebt, doch hier… hier hat man so lange auf deine Rückkehr gewartet.“
Meine Stirn runzelt sich, die Worte klingen wie ein R?tsel. ?Was meinst du damit?“
In diesem Moment tritt Zyar mit einem Fu? in den Garten. Mit einer Handbewegung signalisiert er uns, ihm zu folgen. Wie mag es im Inneren aussehen? Das Geb?ude ist bereits durch seine mattschwarze Au?enfassade ein Blickfang. Je n?her ich der gro?en Terassentür komme, desto mehr verwehrt mir die lange dunkelbraune Jalousie den Einblick ins Innere. Zyar muss seine Privatsph?re sehr sch?tzen.
Als wir eintreten, werde ich von einer angenehmen W?rme empfangen. Im Vergleich zur Menschenwelt steht in Elindros der Winter vor der Tür. Ich habe allm?hlich begonnen zu frieren, doch meine anhaltende Wut hat mich davor abgelenkt.
Sobald wir uns im Wohnzimmer befinden, steuert Zyar auf eines der vielen Bücherregale zu, die in einer Ecke des Raumes stehen. Eine Lampe aus Messing steht auf einem Tisch aus massiver Eiche und beleuchtet die Bücher in der mittleren Reihe mit angemessener Helligkeit. Es sind ungef?hr neun Bücherregale, die nebeneinander aufgestellt sind.
Zyar f?hrt mit seinem Finger über die Buchrücken und zieht eines mit einem tiefgrünen, ledernen Umschlag heraus.
?In Elindros sind die Gef??e des Sonatius Mortaeda etwas Heiliges…“, beginnt Zyar zu erkl?ren und klopft mit der Handfl?che auf das Buch. ?Dieses Buch hat mir deine Mutter damals mitgegeben, gemeinsam mit dem Astralis. Ich habe nie hineinlesen k?nnen, weil nur die Losniw die Befugnis haben, einen Einblick zu bekommen.“
?Was hat das mit der Aussage von Sylas zu tun?“, frage ich perplex und betrachte das intensive Dunkelgrün, das dem Buch eine gewisse Eleganz verleiht.
?Um die Wichtigkeit deiner Rolle in dieser Welt zu verstehen, musst du selbstverst?ndlich deine Vergangenheit kennen“, meint er nun und blickt zu seinem Sohn hinüber. ?Die Vergangenheit der Losniw.“
Ich nicke stumm. Meine Augen liegen weiterhin auf dem Buch, und pl?tzlich kommt mir ein Gedanke. ?Du warst mit meiner Mutter befreundet, aber wie ist es dazu gekommen? Ich bekomme das Gefühl nicht los, dass du, Zyar, in Wirklichkeit einen Groll gegen die Losniw hegst.“
?Nicht nur ich, Vespera“, antwortet er blitzschnell. Er setzt sich auf ein Einzelsofa etwas entfernt von den Regalen. Direkt daneben ist ein gro?er Kamin, in dem tiefblaue Flammen den Raum erw?rmen – der Ursprung der W?rme, die mich bei meinem Eintreten empfangen hat. Blaue Flammen? Das muss bestimmt eine der Besonderheiten von Elindros sein.
?Wie du bestimmt bemerkt hast, h?ren sich die Begriffe Solniw und Losniw sehr ?hnlich an.“ Ich nicke, obwohl mir das eigentlich nicht aufgefallen war. ?Vor langer Zeit, genauer gesagt ein halbes Jahrtausend zuvor, wurden die beiden D?rfer Solnya und Losnat gegründet. Die beiden Gründer, Rhovan Ardelon und Keldor Entium, waren die besten Freunde, die man sich nur vorstellen kann. Um ihre Freundschaft zu verewigen, entschlossen sie sich, jeweils ein Dorf zu gründen, das den Frieden in Elindros gew?hrleisten sollte. Mit der Erlaubnis des damaligen K?nigs Dareth Feroy wurden jene D?rfer, die bis heute noch bestehen, an den beiden Enden von Elindros gegründet. Zwar konnten sich die Gründer nicht mehr so oft treffen wie früher, aber ihre neue Aufgabe verst?rkte die Freundschaft der beiden M?nner.
Mit der Zeit wuchsen beide D?rfer, und nach einem halben Jahrzehnt wurde Eldralith Entium geboren – ein junges M?dchen, das, so erz?hlt man, ihre Haare immer kurz trug. Ein Merkmal hob sie jedoch von den anderen Losniw ab: eine lange, geflochtene Str?hne auf der rechten Seite, die ihr bis zur Hüfte reichte. So sehr der Frieden auch pr?sent war, wussten die beiden M?nner, dass dies kein permanenter Zustand bleiben würde. Rhovan Ardelon und Keldor Entium wussten, dass mit der Zeit Elindine hervortreten würden, die dieses Gleichgewicht st?ren wollten.“
?Aus diesem Grund also die Vereinbarung mit dem Sonatius Mortaeda…“, spreche ich realisierend, und Zyar nickt zustimmend.
?Erst nachdem Eldralith ihr achtes Lebensjahr erreicht hatte, begann sie, eine starke Pr?senz in Elindros wahrzunehmen“, erkl?rt Zyar. ?Du musst wissen, dass bis zu diesem Zeitpunkt die Existenz des Urwesens reine Spekulation war. Deshalb begannen die Losniw nach der Quelle dieser Macht zu suchen. Eldralith gelang dies mit 17 Jahren, und sie wurde das erste Gef??. Du musst verstehen, dass das Bereitstellen des eigenen K?rpers eine enorme Menge an Kraft und Willensst?rke erfordert. Noch nie hat es ein Gef?? gegeben, das direkt nach der übernahme des Sonatius Mortaeda aufgestanden ist und einfach weitermachen konnte.“
Indirekt will er mir verdeutlichen, dass ich, sobald ich meine Aufgabe als Gef?? beginne, in den ersten Tagen nicht selbstst?ndig funktionieren k?nnen werde. Wunderbar.
Eine Stille folgt seinen Worten, doch die Luft um uns vibriert, als h?tte er gerade das Fundament einer alten, vergessenen Geschichte freigelegt. Ich starre Sylas an und spüre, wie sich die Spannung in der Luft verdichtet. Noch fehlt ein entscheidendes Detail – ein Punkt, der all die Geschehnisse erkl?ren muss. Schlie?lich spricht er weiter, seine Worte schwer von Bedauern.
?Keldor Entium hat all seine Kr?fte genutzt, um Eldralith am Leben zu erhalten“, f?hrt Zyar fort. ?Doch seine jüngere Schwester, Velris Entium, nutzte diesen einmaligen Moment und nahm Keldor das Leben. Einst waren die Losniws und Solniws Geschwister im Geiste. Doch seither ist unser Bündnis ein Teil der Vergangenheit – wie auch die Gründer. Nachdem Velris die Kontrolle über das Dorf übernommen hatte, nahmen sich alle Elindine vor den Losniw in Acht. Da die Losniws nirgendwo mehr willkommen waren, zogen sie sich zurück. Du bist die erste Losniw seit 18 Jahren, der ich begegne.“
Schock erfasst mich, und Unglauben spiegelt sich in meinen Augen. ?Ihren eigenen Bruder? Wie kann jemand so etwas tun?“ Meine Gedanken schweifen zu Kronprinz Yula. Trotz seiner Grausamkeit h?tte ich ihm nie so etwas angetan, nie dieses Ma? an Verrat begangen. Geh?re ich etwa zu jenen, die auf der b?sen Seite der Geschichte stehen?
Sylas f?hrt fort, seine Stimme eindringlich: ?Keldor war ein weiser Herrscher. Zusammen mit Rhovan Ardelon versuchte er, den Frieden in Elindros zu bewahren. Die Solniws nutzen die Elemente, w?hrend die Losniws die F?higkeit besitzen, die Vergangenheit eines Ortes oder Gegenstands zu weben, um seine Erinnerungen sichtbar zu machen. Doch Velris und viele andere Losniws verstanden Keldors Ideologie nicht. Sie erkannten, dass mit der Macht des Sonatius Mortaeda der K?nig gestürzt werden k?nnte, um die Losniws an die Macht zu bringen. Aber das wollte Keldor niemals. Nach seinem Tod brachen die Solniws das Bündnis mit den Losniws.“
Ich kann die Erschütterung in mir kaum verbergen. ?Und was geschah mit Eldralith?“ frage ich dringlich und verschr?nke die Arme.
?Eldralith floh“, erkl?rt Zyar und seufzt tief. ?Aber nach einigen Jahren wurde sie gefasst. Der K?nig bot den Losniws Vergebung an, unter der Bedingung, ihm ewige Treue zu schw?ren und die Macht des Sonatius Mortaeda nur im Namen der K?nigsfamilie einzusetzen. Die Losniws verachteten diesen Vorschlag, doch sie wussten, dass Eldraliths Tod ausreichen würde, um die Kraft über den Sonatius Mortaeda zu verlieren. Nur wenige wussten, wie die Bindung an dieses Wesen überhaupt m?glich ist. Doch da alle Zeugen entweder verschwanden oder tot aufgefunden wurden, setzten die Losniws alles daran, Eldralith am Leben zu halten.“
?Dennoch ist sie gestorben…“, spreche ich mit bedrückter Stimme. ?Bestimmt hat sie all die Jahre unter der Tyrannei von Velris Entium gelitten. In so jungen Jahren war sie all dem ausgeliefert und wollte vermutlich nur Keldor Entium helfen – oder vielleicht sogar ganz Elindros…“
Die beiden M?nner sehen mich nachdenklich an. W?hrend Sylas mit einer tiefen Trauer in den Augen zu mir blickt, scheint Zyar keinerlei Emotionen zu zeigen.
?Wenn Eldralith gefasst wurde…“, setze ich an, ?…h?tten sie sie doch zwingen k?nnen, mit der Kraft des Sonatius Mortaeda den K?nig zu stürzen!“
?Das Urwesen erlaubt das nicht“, erkl?rt Zyar mit wissendem Blick. ?Es ist Teil der Vereinbarung, dass seine Kr?fte nicht für solche Zwecke genutzt werden. Wenn man den Erz?hlungen glauben darf, hat Velris den Worten von Eldralith nicht getraut. Du musst wissen, dass das Gef?? jemandem Zutritt zu seinem Bewusstsein gew?hren kann – dem Ort, an dem der Sonatius Mortaeda verweilt. Er hat mit Velris gesprochen und offenbart, dass die Losniws niemals auf dem Thron sitzen k?nnen. Du wei?t, was passiert, wenn die Vereinbarung gebrochen wird – Elindros droht die Vernichtung.“
Das alles ergibt keinen Sinn. Welche Motivation k?nnte der Sonatius Mortaeda, ein Wesen, das weder an Elindros noch an irgendeine Dimension gebunden ist, haben, um seine Kr?fte nicht für pures Chaos zu entfesseln? Zyar selbst hat gesagt, dass das Leid aller Lebenden seine gr??te Freude ist. Irgendetwas Entscheidendes muss geschehen sein, etwas, das nur Eldralith wissen konnte.
?Das ergibt einfach keinen Sinn“, flüstere ich, meine Stimme durchdrungen von Entt?uschung, w?hrend ich den Kopf schüttele. ?Eure Geschichtsbücher… sie entsprechen nicht der Wahrheit.“
?Das k?nnte durchaus der Fall sein“, meint Zyar und zuckt mit den Schultern. Er reicht mir das dicke Buch, das die ganze Zeit über auf seinem Scho? ruhte. ?Hier drin wirst du die Vergangenheit von Losnat nachlesen k?nnen“, erkl?rt er ruhig. ?Nun ja, zumindest die wichtigsten Ereignisse.“
Ich nehme das Buch entgegen, doch seine Schwere überrascht mich. Vorsichtig fahre ich mit dem Finger über den ledernen Buchrücken und atme tief ein. Ein Gefühl der Beklemmung macht sich breit.
?Du hast mir doch erz?hlt, dass die Losniws aufgrund ihrer Abmachung mit dem Sonatius Mortaeda den Thron nicht besteigen dürfen“, erinnere ich Zyar an seine eigenen Worte, mein Herz schneller schlagend. ?Wie kann ich dann die rechtm??ige Anw?rterin sein?“
Ein Blickwechsel zwischen Zyar und Sylas. Sie wissen etwas – etwas, das sie bisher zurückgehalten haben.
?Eldralith meinte zwar, dass dies die einzige Forderung des Sonatius Mortaeda war…“, beginnt Zyar vorsichtig, seine Stimme wie ein schleichender Wind. ?Aber wir vermuten, dass sie tief im Inneren wusste, dass das Nutzen seiner Macht für den Thron den Losniws die perfekte Gelegenheit bieten würde. Ein Fehler, der das gesamte K?nigreich ins Verderben stürzen k?nnte.“
?Wie h?tten sie das tun sollen?“ Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen, mein Misstrauen w?chst. ?Eldralith h?tte doch einfach die Macht des Sonatius nutzen k?nnen, um die Losniws auszul?schen.“
Zyar blickt in den Himmel, sein Gesicht ernst und verschlossen. ?Auch wenn ihr Volk ihren Gründer verraten hat… gab es immer noch Unschuldige unter den Losniw. Sie konnte es nicht über ihr Herz bringen, sie alle zu vernichten. Deshalb konnte sie die Kr?fte des Sonatius Mortaeda nicht entfesseln.“
?Aber habt ihr Beweise für diese Vermutung?“ Meine Stimme dringt sch?rfer hervor, eine Mischung aus Verlangen nach Klarheit und dem schwelenden Zweifel, der in meinem Inneren lodert.
Sie schütteln beide stumm den Kopf. Nichts als Spekulation. Kein Beweis. Das bedeutet, dass mein Besteigen des Thrones ebenso gut Elindros ins Verderben rei?en k?nnte.
?Und ich soll auf Basis einer blo?en Vermutung das neue Gef?? werden? Die neue K?nigin von Elindros?“ Ein leises Lachen entf?hrt mir, doch es tr?gt keinen Hauch von Freude. Es ist die Verzweiflung, die sich langsam in mein Herz frisst.
Das alles fühlt sich falsch an, unwirklich, als w?re ich noch in einem Traum gefangen und würde jeden Moment in meinem Zimmer in der Menschenwelt aufwachen. Doch die Schmerzen, die mich hierhergetrieben haben, sind zu real, um einfach nur ein Traum zu sein.
Und jetzt wollen sie, dass ich beim Sturz des K?nigs helfe? Ich wei? nicht, ob ich ihnen trauen kann. Nicht mehr. Vielleicht haben sie nie zu den Guten geh?rt. Jedenfalls Zyar nicht.