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Kapitel 21: Der Schattenschild des Thrones

  Sylas starrt auf seine H?nde. Sie zittern. Sein Atem ist schwer, seine Energie fast aufgebraucht. Jeder Muskel in seinem K?rper schreit nach Ruhe, doch er kann es sich nicht leisten nachzugeben. Nicht jetzt. Nicht hier.

  ?Natürlich habe ich immer ein Ass im ?rmel“, sagt der Solniw. Ich muss sein Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass er Rasha Vane provokant angrinst.

  Rasha Vane knirscht mit den Z?hnen, seine Augen lodern vor Wut, doch nicht auf Sylas – auf mich.

  ?Das warst du, nicht wahr?“ Sein Blick bohrt sich in meine Seele. ?Warum im Namen von Varkas Rhaen wurde der Sonatius Mortaeda ausgerechnet den Elindine aus Losnat versprochen?“

  Ich erinnere mich an das, was Sylas mir zuvor erkl?rt hat: Jeder Elindine schw?rt beim Namen des Gründers seines Dorfes. In Arenath ist es Nairis Solthea. In Solnya Rhovan Ardelon. Und in Losnat? Ich zweifle daran, dass jemand dort noch an Keldor Entium, den wahren Gründer, denkt. Sein Name ist wahrscheinlich in Vergessenheit geraten. Stattdessen schw?ren sie nun vermutlich im Namen von Velris Entium – seiner verr?terischen Schwester.

  Sylas wirft mir einen kurzen Blick über die Schulter zu. Seine Augen gl?nzen vor Bewunderung, vor Stolz. Er erkennt, dass wir eine Chance haben. Dass es noch Hoffnung gibt, diesen Kampf zu überleben. Doch wie kann er noch stehen? Woher nimmt er diese Kraft?

  ?Wir müssen eingreifen“, wispert Mirael neben mir, ihr Gesicht voller Besorgnis. ?Ich muss eingreifen.“

  ?Du wei?t, was er gesagt hat.“ Meine Stimme ist fester, als ich mich fühle. ?Wir dürfen uns nicht einmischen. Er stellt unser Leben über seines.“

  Mirael bei?t sich auf die Lippe. ?Er hat dir vielleicht sein Leben versprochen“, sagt sie leise, aber entschlossen. Unsere Blicke treffen sich. ?Aber ohne ein Versprechen werde ich seines immer über meines stellen. Das ist die Bedeutung meiner Gefühle für ihn.“

  Dann macht sie einen Schritt nach vorne – und ich packe sie am Arm. Sie versucht sich loszurei?en, doch in diesem Moment erstarren wir beide.

  Rings um uns, zwischen unserer Gruppe und den Sualtieren, tauchen weitere Gestalten auf. Ihre Rüstungen sind schwarz wie die Nacht. Ihre Pr?senz ist unheilvoll.

  Rasha Vane mustert sie mit schmalen Augen, sein Tonfall ist lauernd. ?Ach, die Velsothier m?chten sich dem Kampf anschlie?en?“

  Die Elindine aus Velsoth?

  Was tun sie hier? Velsoth ist noch zwei Stunden entfernt. Warum sind sie so weit gereist?

  Ein Velsothier tritt vor. Eine Frau. Ihre Stimme ist ruhig, aber hart wie Stahl. ?Dieses Gebiet unterliegt unserer Anführerin Rhea Varne.“

  Mein Blick wandert zu ihr. Ihr Gesicht bleibt verborgen, eingehüllt in die Dunkelheit ihrer Rüstung. Was für eine Person verbirgt sich darunter? In der Menschenwelt hei?t es, ein einziger Blick genüge, um die Absichten eines anderen zu erkennen. Doch diesmal bleibt mir dieser Blick verwehrt.

  Rasha Vane lacht leise. ?Ach, ist das so?“ Er nimmt sie nicht ernst, keinen einzigen von ihnen. ?Dafür, dass ihr glaubt, hier das Sagen zu haben, habt ihr uns aber ganz sch?n lange k?mpfen lassen. Warum?“

  Die Velsothierin wiederholt unbeeindruckt ihre Worte: ?Dieses Gebiet unterliegt unserer Anführerin Rhea Varne. Nenne mir deinen Namen.“

  Rasha Vane zuckt mit den Schultern und grinst breit. ?Der Zerst?rer der Welten: Rasha Vane.“

  Die Elindine l?sst sich nicht beirren. ?Rasha Vane aus Cata Sualti.“ Sie pausiert einen Moment. ?Nun gut. Wir werden Korrik Vathar über deinen Versto? informieren. Nehmt sie alle gefangen.“

  Rasha blinzelt, dann lacht er auf. ?Moment mal—“

  Er bekommt keine Gelegenheit, seinen Satz zu beenden. Die Sualtiere um ihn herum zücken ihre Waffen, bereit zu k?mpfen, aber es ist sinnlos. Die Velsothier sind ihnen überlegen.

  Erst waren sie nur zu siebt. Jetzt sind es pl?tzlich zwei Dutzend.

  Aber wir… wir sind nicht ihre Feinde. Warum nehmen sie auch uns ins Visier?

  Ich sehe, wie sich die Velsothier in Bewegung setzen. Mein Blick sucht Sylas. Er erkennt die Gefahr, will zu mir rennen – doch es ist zu sp?t.

  Etwas Unsichtbares packt mich, ein dunkler Sog zieht mich fort.

  Dann verschlingt mich die Finsternis.

  Ein dumpfer Schmerz pocht in meinem Sch?del, als würde etwas Schweres in meinen Gedanken nachhallen. Ein Nebel liegt über meinem Bewusstsein, dicht und tr?ge. Ich spüre, wie ich langsam aus der Dunkelheit auftauche, wie mein Geist sich durch z?he Schw?rze k?mpft.

  Mein Kopf brummt. Ich zwinge mich zu blinzeln – einmal, zweimal. Doch meine Lider sind schwer, als wollten sie mich zurück in die Ohnmacht ziehen. Erst nach mehreren Versuchen gelingt es mir, sie offen zu halten.

  Langsam richte ich mich auf. Die Luft ist kühl, ein sanfter Wind streift meine Haut, tr?gt den Duft von Gras und etwas Unbekanntem mit sich. Als sich mein Blick kl?rt, erkenne ich, dass ich an einem v?llig anderen Ort bin als zuvor.

  Unter mir erstreckt sich eine endlos weite Wiese, das Gras weich und sanft leuchtend im silbrigen Licht. Die Halme wiegen sich im Wind wie ein flüsterndes Meer, das sich bis zum Horizont erstreckt, unendlich und surreal.

  über mir liegt ein Nachthimmel, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. Unz?hlige Sterne funkeln in tiefem, strahlendem Licht – Nicht blo? als ferne Punkte, sondern als leuchtende Konstellationen, die wie uralte Schriftzeichen den Himmel zieren – als würden sie von einer l?ngst vergessenen Geschichte erz?hlen. Und dann sehe ich sie.

  Drei Monde.

  Sie h?ngen am Himmel wie stille W?chter, riesig und fremdartig. Doch seltsamerweise ist da noch etwas anderes. Etwas, das nicht sein sollte. Drei Sonnen. Sie überdecken die Monde, als würden sie sie verschlingen, als w?re die Nacht gefangen in ihrem Licht.

  Ein beklemmendes Gefühl steigt in mir auf. Ich habe davon gelesen… eine Sonnenfinsternis. Doch nie so. Nicht so.

  Was bedeutet das?

  Das hier ist nicht die reale Welt. Ich wurde von den Velsothier gefangen genommen. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist der Kampf, die Stimmen, das Chaos. Und jetzt?

  Tr?ume ich?

  Oder bin ich in etwas geraten, das weit mehr ist als ein blo?er Traum?

  Langsam richte ich mich auf. Die Feuchtigkeit des Grases hat sich bereits tief in meine Kleidung gefressen. Ich spüre, wie der Stoff schwer an meinem Bein klebt, klamm und unangenehm. Ein Zittern l?uft über meine Haut, doch ich ignoriere es. Stattdessen lasse ich meinen Blick über die endlose Weite schweifen. Keine B?ume, keine Tiere, keine Zeichen von Leben. Nur die Stille der Natur – tief und allumfassend.

  ?Wo bin ich hier nur gelandet?“ Meine eigene Stimme wirkt fremd, hohl in dieser lautlosen Umgebung. Ich drehe mich langsam um mich selbst, versuche, jeden Winkel zu erfassen.

  Dann – ein Beben. Erst leicht, kaum spürbar, dann pl?tzlich heftig. Der Boden vibriert unter meinen Fü?en, als würde er atmen, pulsieren. Ein dumpfes Grollen dringt an mein Ohr, so tief, dass es in meiner Brust nachhallt.

  Was ist hier los?

  Noch bevor ich einen Schritt machen kann, verblasst die Welt um mich herum. Die Luft scheint zu flimmern, zu flackern, als würde sie sich aufl?sen. Ger?usche brechen durch das Nichts – ged?mpft, doch dr?ngend. Stimmen.

  ?Vespera!“

  Ein Ruf, erst fern, dann lauter. Immer lauter. Bis ich blinzelnd in die Augen von Sylas sehe.

  Er atmet schwer aus. ?Bei Rhovan Ardelon, sie lebt!“

  Neben ihm steht Mirael, die ebenfalls sichtbar Erleichterung zeigt. Mein Blick wandert weiter – zu den kalten Gittern zu meiner Linken. Eine Zelle. Gefangenschaft.

  Ich bewege meine Hand – ein leises Klirren. Mein Blick f?llt auf die Ketten, die sich um meine Hand- und Fu?gelenke schmiegen. Schwer, rau, unm?glich zu ignorieren. Sylas und Mirael tragen nur Handschellen.

  ?Warum habt ihr nur Handschellen?“ Meine Stimme ist brüchig, mein Kopf dr?hnt.

  Sylas seufzt. ?Deine Haare haben dich sofort verraten. Ich habe dich gewarnt. Es gibt nur wenige in Elindros, die mutig genug sind, jenen aus Losnat ohne Waffen entgegenzutreten.“

  ?Aber ich bin nicht der Feind!“

  ?Wir werden bald vor Rhea Varne treten.“ Seine Stimme ist ruhig, aber angespannt. ?Sie wollten sehen, ob du noch zur Besinnung kommst. Vespera, ich habe wirklich geglaubt, dass du nicht mehr lebst. Drei Minuten lang hattest du keinen Puls.“

  Keinen Puls? Mein Magen zieht sich zusammen. Ich… war tot?

  ?Du hast meine Gedanken gewebt, stimmt’s?“ Sylas' Blick ist eindringlich, fast flehend. Mirael erstarrt neben ihm. ?Du wei?t, dass das nur fortgeschrittene Losniw k?nnen! Deine eigenen Worte! Warum hast du es trotzdem getan?“

  ?Weil du sonst gestorben w?rst!“

  Stille.

  Sylas k?mpft mit den richtigen Worten. ?Aber… das ist doch nicht, wofür unser Blutspakt steht! Ich muss mein Leben für deins opfern!“

  ?Ich wollte nicht, dass Mirael wegen mir noch jemanden verliert, den sie liebt.“

  Mirael starrt mich an, ihre türkisen Augen weiten sich. Ich sehe, wie Erinnerungen durch sie hindurchfluten, an das, was sie einst gesagt hat. Dass sie kein Versprechen braucht, um für den zu sterben, den sie liebt.

  Ich habe geglaubt, dass meine Gefühle für Sylas… Liebe sind. Aber Mirael hat mich eines Besseren belehrt. Was sie für ihn empfindet, geht tiefer, ist st?rker, unerschütterlich.

  ?Nach all den Beleidigungen…“ Miraels Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. ?… hast du dich trotzdem um mich gesorgt?“

  Ich blicke sie an. Ihr Haar, ein hellblauer Wasserfall, f?llt über ihre Schultern, schimmert im trüben Licht der Zelle. Als wir uns das erste Mal begegneten, war sie für mich nichts weiter als eine Fremde – und doch wundersch?n. Sie hat Fehler gemacht, sich von ihrer Wut leiten lassen. Aber am Ende ist sie nur ein M?dchen. Siebzehn Jahre alt. Eine Jugendliche. Genau wie ich.

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  Wie konnten wir nur hier landen?

  Ich schlucke schwer. ?Ich wei?, dass ich Schuld am Tod deiner Mutter habe.“ Meine Stimme bricht fast. ?Aber ich wollte niemals, dass Solnya dieses Leid erf?hrt. Ich wollte nicht, dass Rasha Vane…“

  Die Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich will nicht schwach wirken. Nicht vor ihr. Sie hat mich gehasst, und ich habe versucht, sie ebenfalls zu hassen. Aber ich kann es nicht.

  Ich werde niemals jemandem absichtlich leid zufügen k?nnen.

  Dann, bevor einer von uns etwas erwidern kann, wird die Stille zerrissen.

  ?Unsere Anführerin Rhea Varne erwartet euch.“

  Die Stimme geh?rt einem Velsothier. Seine schwarze Rüstung schimmert im schwachen Licht, und an seiner Seite h?ngt eine Waffe, die fast wie ein lebendiges Wesen pulsiert – eine Peitsche aus Schatten.

  ?Wo sind Rasha Vane und die anderen Sualtiere?“ frage ich leise.

  Ein scharfes Schnalzen l?sst mich zurückzucken. Die Peitsche des Velsothiers zischt nur wenige Zentimeter vor meinen Fü?en zu Boden.

  ?Wie kannst du es wagen, als Gefangene ohne Erlaubnis zu sprechen?“ Seine Stimme ist gef?hrlich leise.

  Ich ?ffne den Mund für eine Erwiderung – doch Mirael presst mir schnell eine Hand auf die Lippen, w?hrend Sylas beschwichtigend spricht: ?Wir bitten um Entschuldigung. Unsere Freundin ist… temperamentvoll.“

  Der Velsothier mustert mich, dann verfestigt sich sein Griff um die Peitsche. Wegen seines Vollhelms kann ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Aber dieser ist sicherlich nicht freundlich. ?Sie kann froh sein, dass sie mich an meinem guten Tag erwischt hat. Knie dich nieder, M?dchen, und bitte um Vergebung.“

  Ich spüre Sylas‘ Blick auf mir. Ich verstehe. Wir haben keine Wahl.

  Langsam sinke ich auf die Knie, mein Blick bleibt gesenkt. Nicht aus Respekt – sondern, weil ich wei?, dass jeder Fehler hier Konsequenzen haben k?nnte.

  ?Vergebt mir meine Respektlosigkeit…“ Ich wei? nicht einmal, für was genau ich mich entschuldige.

  ?Steh wieder auf, M?dchen.“

  Seine Rüstung klirrt leise, als er mir mit einer Handbewegung bedeutet, mich zu erheben.

  Dieser Elindine ist anders als alle, denen ich seit meiner Ankunft in Elindros begegnet bin. Die Sualtier sind blutrünstig und mordlustig, daran besteht kein Zweifel. Doch dieser Mann … er h?lt sich für etwas Besseres. Als w?ren wir nicht mehr als l?stiges Ungeziefer, das ihm ?rger bereitet. Wenn alle Velsothier Fremden gegenüber so reagieren, wird unser Aufenthalt in Velsoth alles andere als angenehm. Schon die Tatsache, dass uns die Anführerin Rhea Varne eingesperrt hat, ist kein gutes Zeichen. Und wo sind überhaupt Rasha Vane und die anderen Sualtiere?

  Schweigend folgen wir dem Elindine, dessen Rüstung bei jeder Bewegung klirrend nachhallt – das einzige Ger?usch, das meine Sinne für einige Minuten wahrnehmen. Meine Sicht hilft mir kaum weiter; die G?nge – oder wo auch immer wir uns befinden – sind in v?llige Dunkelheit gehüllt. Als Sylas meinte, dass dieses Dorf noch nie Sonnenlicht gesehen hat, hat er nicht übertrieben.

  Pl?tzlich ?ffnet sich eine Tür. Im n?chsten Moment spüre ich einen festen Griff an meinen Schultern. Sylas und Mirael ergeht es nicht anders – ich h?re ihre überraschten Laute, spüre die pl?tzliche Anspannung in der Luft. Dann greifen zwei weitere H?nde nach meinem Gesicht.

  Ehe ich reagieren kann, spreizen sie meine Lider. Ich spüre, wie mir grob etwas ins Auge gedrückt wird. Ein stechender Schmerz durchzuckt mich. Ich beginne zu tr?nen.

  ?Was zum …? Was ist das für ein Zeug?“, zische ich und reibe mir die brennenden Augen.

  ?In wenigen Sekunden wird sich Eure Sicht an das Veleis gew?hnen“, erklingt eine kühle, weibliche Stimme. Sofort verstummen wir und drehen uns in ihre Richtung. ?Es wird helfen, Euch in unserem Dorf nicht an jeder Wand den Kopf zu sto?en.“

  Leises Gel?chter ert?nt. Mehrere Elindine stehen um uns herum – sind wir umzingelt? Sind die Velsothier unsere Feinde oder einfach nur übertrieben misstrauisch?

  ?Seid Ihr Rhea Varne?“, fragt Sylas angespannt, doch mit h?flichem Tonfall. ?Verzeiht unser Benehmen in Eurem Territorium. Nach dem pl?tzlichen überfall der Sualtiere konnte ich meine Gef?hrtinnen nicht kampflos aufgeben.“

  ??u?erst nobel, Sylas Velqorin, Sohn des Legaten der Elemente“, entgegnet die Stimme. ??ffnet Eure Augen. Oder traut Ihr Euren eigenen Sinnen nicht?“

  Z?gernd blinzele ich – und die Dunkelheit weicht. Pl?tzlich kann ich alles klar erkennen: einen riesigen Thronsaal mit einer Decke, die sich endlos in die H?he zu erstrecken scheint. Zu beiden Seiten stehen unz?hlige Velsothier in ihren schwarzen Rüstungen. Ein meterlanger, schwarzer Teppich führt bis an das Ende des Saals, mit Stickereien, die immer wieder dasselbe Motiv zeigen – eine Gestalt, die wei?e Schatten b?ndigt. Und am Ende, auf einem erh?hten Podium, sitzt … ein Kind.

  Ein junges M?dchen, dessen kleiner K?rper beinahe in dem riesigen Thron verschwindet. Sie sitzt mit verschr?nkten Beinen da, eine Wange auf die Faust gestützt, und mustert uns neugierig.

  Das Veleis, das man mir ohne mein Einverst?ndnis eingesetzt hat, hat sich l?ngst mit meinem K?rper verbunden. Ich spüre es nicht mehr. Doch w?hrend mein Gehirn noch versucht, die pl?tzliche Flut an Eindrücken zu verarbeiten, realisiere ich: Die Stimme kam von ihr. Nein, das kann nicht sein.

  Ist sie die Tochter der Anführerin? Wo ist Rhea Varne? Ich habe doch ihre Stimme geh?rt!

  ?Vespera Entium“, sagt das M?dchen und ich sehe ihre Lippen sich bewegen. SIE ist Rhea Varne?

  ?Ihr wirkt verwirrt“, f?hrt sie fort, ihre Miene regungslos. ?Wurdet Ihr nicht gut behandelt von meinen Leuten?“

  Ich rei?e mich zusammen und schüttle hastig den Kopf. Meine Gedanken wandern zu dem Velsothier, der uns hierhergebracht hat. Ich darf mir keinen Fehltritt erlauben – nicht vor ihren Soldaten.

  ?Natürlich, Eure …“, beginne ich und halte inne. Wie spricht man eine Anführerin an? Erst recht ein Kind, das an der Spitze eines ganzen Dorfes steht?

  ?Rhea reicht vollkommen aus“, sagt sie tonlos.

  Die Blicke der versammelten Velsothier ruhen auf mir. Sie beobachten mich, warten darauf, wie ich mich in Gegenwart ihrer Anführerin verhalte. Soll ich mich an ihre Worte halten oder sie trotzdem mit ihrem Titel ansprechen?

  ?Ihr seid misstrauisch“, stellt Rhea Varne fest. Ich muss mich zwingen, sie ernst zu nehmen. Sie ist ein Kind! Wie soll ich ihr gegenüber auftreten? ?Warum? Ich habe doch den jungen Velqorin behandeln lassen.“

  überrascht wandert mein Blick zu Sylas. Ich suche nach den Verletzungen, die er im Kampf gegen Rasha Vane erlitten hat – doch stattdessen sehe ich saubere Verb?nde. Er wurde wirklich versorgt. Bei all dem Chaos hatte ich v?llig vergessen, wie schlimm seine Wunden gewesen waren.

  Sind die Velsothier also doch nicht unsere Feinde? Oder ist das nur eine geschickte Falle?

  ?Ich danke Euch für Eure Gunst, Rhea“, sagt Sylas h?flich. Er spricht sie so an, wie sie es gewünscht hat. ?Und verzeiht Vespera. Sie ist nicht lange in Elindros und kennt unsere Br?uche nicht. Deshalb wirkt ihr Blick oft … fragend.“

  Erst als er diese Worte ausspricht, realisiert er seinen Fehler. Er hat etwas verraten, das er nicht h?tte erw?hnen sollen – meine Herkunft. Jetzt wei? Rhea Varne, dass ich nicht aus dieser Welt stamme. Dass ich eine Bestimmung habe.

  ?Dass das zehnte Gef?? des Sonatius Mortaeda vor mir steht, habe ich mir bereits denken k?nnen“, sagt sie ruhig.

  Ihre Stimme, ihre Haltung – nichts davon passt zu ihrem kindlichen Gesicht. Ihr schwarzes Haar reicht ihr nur bis zu den Ohrl?ppchen und verleiht ihr eine beinahe niedliche Erscheinung. Doch ihre violetten Augen … darin liegt eine K?lte, die nicht zu einem Kind geh?rt.

  Ich mustere sie neugierig – und mache mir nicht einmal die Mühe, es zu verbergen. Die Anführerin der Velsothier spielt mit einer Str?hne ihres schwarzen Haars.

  ?Es ist ?u?erst ungew?hnlich, eine Elindine mit silbernem Haar zu sehen“, sagt Rhea. ?Seit vielen Jahren haben wir keine Losniw mehr in unserer Gegend gesehen – geschweige denn au?erhalb von Losnat.“

  ?Wieso behaupten alle, ich h?tte silbernes Haar?“, frage ich verwirrt und runzle die Stirn. ?Seit ich mich erinnern kann, sind meine Haare wei? wie Schnee.“

  ?Nicht ganz, Vespera Entium“, entgegnet das M?dchen und schnippt mit den Fingern.

  Eine Frau l?st sich aus der Menge. Anders als die anderen tr?gt sie keine Rüstung, sondern eine schwarze Stoffhose und eine passende wei?e Bluse. Ihre H?nde stecken in schwarzen Lederhandschuhen, in der rechten h?lt sie einen Spiegel. Ihr langes schwarzes Haar ist zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, der ihr dennoch bis zum Rücken reicht. Sicherlich Ende zwanzig – und von einer bemerkenswerten Sch?nheit.

  Mit anmutigen Schritten tritt sie vor mich und h?lt mir den Spiegel hin.

  ?Euer Haar, Vespera Entium“, sagt Rhea ruhig. ?Seit Eurer Ankunft in Elindros hat es die ursprüngliche Farbe der Losniw angenommen. Ist Euch das nicht aufgefallen?“

  Ich starre in den Spiegel – und mein Herz setzt einen Schlag aus.

  Mein Haar hat sich ver?ndert. Der Schneewei?-Ton, den ich mein ganzes Leben lang kannte, ist einem sanften Silber gewichen. Und meine Augen – sie leuchten heller als zuvor. Ein helles grau.

  Sylas betrachtet mich ebenfalls überrascht. Wenn selbst er es nicht bemerkt hat, wie h?tte ich es dann merken k?nnen?

  ?Es scheint, als h?tte Euch jemand mit einem Schutzbann belegt“, meint Rhea nachdenklich. ?Oder mit etwas ?hnlichem. Etwas, das es verhindert hat, Euch ausfindig zu machen.“

  Ich rei?e den Blick vom Spiegel los. ?Wie meint Ihr das?“

  Wer soll dafür verantwortlich sein? Meine Mutter, nachdem sie mir ihre Bürde auferlegt hat? Oder der Sonatius Mortaeda? Wann werde ich diesem Wesen endlich begegnen – diesem Schatten, der mein ganzes Leben beeinflusst?

  Rhea verschr?nkt die Arme. ?Ich habe bereits geahnt, dass das zehnte Gef?? des Sonatius Mortaeda nicht in Elindros sein kann“, sagt sie. Dann wendet sie sich an einen Mann neben ihr. ?Berater Selric Thorne – wie genau wird in Elindros bekanntgegeben, dass ein neues Gef?? auserw?hlt wurde?“

  Der Mann an Rheas rechter Seite tritt vor. Seine schwarze Rüstung schimmert in dunklem Grün – ein Zeichen seiner Stellung. Natürlich, er ist ihr Berater. Jemand, der sich von all den schwarzen Rüstungen abheben muss. So wie Lord Louweris in der Menschenwelt die rechte Hand von K?nig Mukuta Valdyris ist. Ein Mann, der sich das Recht nahm, mich zur Ehefrau zu machen – ohne jemals um meine Zustimmung zu bitten.

  Selric Thorne nimmt seinen Helm ab. Glattes, schwarzes Haar kommt zum Vorschein, an den Seiten rasiert und am Hinterkopf zu einem Zopf geflochten. Sein Gesicht ist von einer tiefen Narbe gezeichnet, die von seinem rechten Ohr bis hinunter zum Kinn verl?uft. Sie entstellt ihn nicht – aber sie erz?hlt eine Geschichte. Welche wohl?

  Seine Augen, so tiefblau wie der Nachthimmel, mustern mich mit der gleichen kühlen Distanz wie die Anführerin. Misstrauen liegt in ihrem Blick. Und doch ist da auch Neugier.

  ?Drei Monde stehen bei der Geburt des Gef??es am Himmel, meine Anführerin“, sagt Selric Thorne mit respektvoller Stimme. ?So war es auch in jener Nacht vor achtzehn Jahren, als das fünfte Leben in Elindros erwachte.“

  Das fünfte Leben in Elindros? Meinen sie den fünften Monat? Meinen sie… meinen Geburtsmonat?

  ?Vor ein paar Tagen ereignete sich am Nachthimmel etwas Seltenes.“ Selric Thorne spricht mit der ruhigen, bedachten Stimme eines Mannes, der es gewohnt ist, dass jedes seiner Worte Gewicht tr?gt. Rhea Varne wechselt einen Blick mit ihm – ein stummer Austausch, ein Funke unausgesprochener Bedeutung.

  ?Vielleicht nur für einen Wimpernschlag“, f?hrt er fort. ?Doch es reichte aus, damit eine Handvoll Elindine es sah.“

  Ich mustere ihn mit hochgezogener Braue. Der Blick des Beraters ruht fest auf mir, durchdringend und unbeirrbar. Ein Moment des Schweigens dehnt sich zwischen uns aus – eine Stille, schwer wie eine Gewitterwolke kurz vor dem ersten Blitz.

  ?Neben den zwei Monden, die jede Nacht über Elindros wachen, erschien für einen Augenblick ein dritter.“ Seine Stimme senkt sich beinahe zu einem Flüstern. ?Ein schwaches, flackerndes Licht, wie eine Fackel, deren Feuer erlischt.“

  Rhea tritt vor, ihre Pr?senz so selbstsicher wie die einer Regentin, die wei?, dass ihre Worte allein die Welt formen k?nnen. ?Mein treuer Berater und der Schattenschild des Thrones von Velsoth, Selric Thorne, hat mir von diesem Ereignis berichtet.“ Ihre Stimme ist weich, aber unnachgiebig. ?Seit jeher tr?gt seine Familie diesen Titel. ?Thorne‘ stammt aus unserer alten Sprache – einer Sprache, die einst Elindros durchzog, doch mit der Einigung der Menschenwelt verloren ging.“

  Ihre Worte verwirren mich. Ich versuche, ihrem Gedankengang zu folgen, doch es fühlt sich an, als würde ich einen Faden greifen, der sich immer wieder zwischen meinen Fingern aufl?st. ?Ihr verwirrt mich, Rhea“, sage ich schlie?lich. Mein Blick ruht auf ihr, auf diesem M?dchen, das mehr Wissen in sich tr?gt, als ich je besitzen werde.

  ?Vor eintausend Jahren“, erkl?rt sie. ?Sprach man in Elindros eine Sprache, die sich von der unsrigen unterschied – so sehr, dass wir sie heute kaum noch verstehen k?nnten.“ Sie lehnt sich zurück, als würde sie sich einen Moment in dieser fernen Vergangenheit verlieren. ?Eine Zeit, in der weder Ihr noch ich existierten. Das Nexari – die Zwischenwelt, die Ihr durchqueren musstet – war für Jahrtausende allen Dimensionen verschlossen. Doch dann war da ein Mann. Toric Zhaeris, der Gründer von Tharvokai, dem Dorf der Pulsmeister.“

  Ich spüre, wie sich meine Neugier wie ein Feuer in meiner Brust entfacht, doch noch kann ich ihre Absicht nicht greifen.

  ?Es hei?t, er suchte ganz Elindros nach einem Heilmittel ab. Nicht für sich, sondern für seine Ehefrau, Sariah Zhaeris – eine Syvrali.“ Rhea hebt ihr Kinn, und ihre Stimme tr?gt eine eigentümliche Schwere. ?Ihr wisst, was es bedeutet, ein Syvrali zu sein. Ihr Leben schwindet mit jeder Vision, die sie sehen. Ihr Schicksal ist grausam, doch der damalige K?nig wusste um ihren Wert. Viele von ihnen wurden ins K?nigreich gebracht, um der Krone zu dienen.“

  Ich nicke langsam. Ja, ich kann mir nur allzu gut vorstellen, wie wenig dem damaligen K?nig an deren Leben gelegen ist.

  ?Damals gab es weder Solniws noch Losniws. Das Elindros dieser Zeit war eine andere Welt.“

  Ich spüre, wie sich meine Muskeln anspannen. ?Warum erz?hlt Ihr mir das?“ Meine Stimme ist leiser, vorsichtiger als zuvor.

  Doch Rhea geht nicht auf meine Frage ein. Sie redet weiter, als w?re es unausweichlich, als müsste diese Geschichte erz?hlt werden, ob ich es nun verstehe oder nicht.

  ?Toric Zhaeris fand in Elindros nicht, was er suchte. Und so tat er das Unm?gliche: Er durchbrach die Barriere zum Nexari.“ Ihre Stimme ist jetzt kaum mehr als ein Hauch. ?Niemand wei?, wie er es tat, nur, dass danach nichts mehr war wie zuvor. Man sagt, dass durch seine Tat der Sonatius Mortaeda seinen Weg nach Elindros fand.“

  Ein kalter Schauer l?uft mir über den Rücken. Ich kenne diesen Namen und habe ihn bereits etliche Male geh?rt. Doch etwas in der Art, wie sie ihn ausspricht, l?sst mich erschauern.

  ?Warum erz?hlt Ihr mir das alles?“ Ich h?re das Zittern in meiner eigenen Stimme, und es macht mir Angst. Angst, dass ich mit meinen Worten eine Grenze überschreite, dass ich Fragen stelle, die nicht gestellt werden sollten.

  Rhea h?lt inne. Zum ersten Mal scheint sie sich meiner Unsicherheit bewusst zu werden. Dann, mit einem leichten L?cheln, das fast verspielt wirkt, sagt sie: ?Verzeiht. Ich verliere mich manchmal in alten Geschichten.“

  Sie erhebt sich langsam von ihrem Thron.

  ?Ihr müsst verstehen… manchmal reicht eine einzige Entscheidung, um alles zu ver?ndern. W?re Toric Zhaeris damals nicht ins Nexari eingetreten, würdet Ihr heute nicht vor mir stehen, Vespera Entium.“

  Mein Herz schl?gt schneller. Mein Name auf ihren Lippen fühlt sich an wie ein Versprechen – oder eine Drohung.

  ?Was wollt Ihr von mir?“

  Ein L?cheln huscht über ihre Lippen.

  ?Frieden.“

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