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Schauspiel: Rettung

  ?Oh, nein, nein. Tritt bitte einige Schritte zur Seite, Mimi Schatz. Ich wüsste n?mlich nicht, wie ich sonst zu meiner Nichte kommen sollte.“

  Tatinnes vertraute Stimme fühlte sich wie ein Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit an. Erleichterung durchstr?mte Etienne, dass ihr für einen Moment schwindlig wurde, als Mirtin erschrocken zurücktrat und sich nach Tatinne umsah, welche soeben die gro?e schwere Tür hinter sich zufallen lie?. Sie hatte einen Korb unter ihrem Arm und die H?lfte ihres Gesichtes war bedeckt vom Netz ihres schicken kleinen Hutes, welcher mehr Dekoration zu ihren roten Locken war, als dass er sich wirklich dazu eignete, sie vor dem Wetter zu schützen. Dafür hatte sie in der anderen Hand einen riesigen Regenschirm, welcher vor N?sse triefte und auf den Boden tropfte. Ihr weinroter Mantel bedeckte ihr schwarzes Kleid, dessen Saum unten rausschaute.

  ?Was will die Spinne hier?“, spuckte Mirtin ihr entgegen.

  ?Meine Nichte abholen. Zur Mittagspause“, sprach Tatinne, als w?re sie emp?rt über Mirtins Frage und als w?re die Antwort so offensichtlich.

  ?Die Mittagspause ist vorbei.“

  ?Wirklich? Aber hier sitzen alle so nutzlos herum. Au?erdem sieht es hier so aus, als w?rt ihr alle sowieso fertig für den Tag. Aber keine Sorge, Kinder“, ihre Augen wanderten zu Anjelika, sie zwinkerte ihr grinsend zu, ?Ich hab da so ein Gefühl, dass die n?chste Woche fantastisch wird.“

  Etiennes sah nerv?s von Anjelika, welche nun breit strahlte, zu Tatinne. Ob sie wusste, dass Tatinne diese Floskel nur zu gerne von sich gab, um die Leute ruhig zu stimmen?

  ?Tatinne“, sprach Mirtin zu ihr, trat noch einen Schritt zurück, w?hrend Tatinne sich an Etiennes Seite stellte, ?Wir dulden hier keine Besucher.“

  ?Oh bitte“, Tatinne verdrehte die Augen und sah dann zu Etienne, ?Lass uns an einen ruhigeren Ort gehen.“

  Ihre Hand mit dem Zauber zur Faust geballt und mit dem Gedanken, dass ihn hoffentlich keiner sehen würde, stand Etienne auf. Ihr K?rper beschwerte sich sofort. Ihr Knie knackste und ein unangenehmer Schmerz durchfuhr sie. Etienne bewegte sich jedoch langsam und bewusst, versuchte niemandem ihre Schw?chen zu zeigen. Sie war schon deutlich schlimmer zugerichtet gewesen, das hier war ein Leichtes.

  ?Ihr k?nnt nicht gehen. Etienne muss sich ihrer neuen Verantwortung stellen und wir bieten ihr den Ort, sich zu entwickeln“, sprach Mirtin.

  ?Ich werde nicht spielen“, sagte Etienne erneut, fühlte sich wie ein Vogel, der immer und immer wieder dieselben Sachen von sich gab. Doch keiner achtete auf sie.

  ?Oh, ich bitte dich, Mimi Schatz, verschwende deine Luft an jemand anderen. R?umt erst mal euer Chaos auf, dann k?nnt ihr Etienne überzeugen. Auch wenn ich mich wirklich wundere, was es hier zu überzeugen gibt. Du warst fabelhaft, ich bin mir sicher, deine F?higkeiten sind genauso gut wie damals.“

  Etienne schielte vorsichtig zu ihr hinauf. Das fühlte sich nicht wie Unterstützung an.

  ?Nun denn, wenn es so war, dann kann sie sich gerne bei uns austoben. Elias wird ihr sein Klavier bereitstellen.“

  ?Nicht notwendig“, sagte Tatinne und winkte mit der Hand den Vorschlag ab, ?Wir haben ein Klavier bei uns im Haus stehen. Und nun komm, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

  ?Etienne“, sagte Mirtin schlie?lich, ihre Stimme triefte von Frust und Strenge, ?Da du heute keine andere Aufgabe hattest, r?umst du sp?ter auf.“

  Etienne folgte Tatinne, schwieg dazu und gab Mirtin den einzigen Sieg, den sie heute erzielt hatte.

  °?★?°∵.?.∵°?☆?°

  Etienne setzte sich ersch?pft in den Stuhl in einem der Klassenzimmer.

  ?Oh, nicht schlecht, du siehst aus, als h?ttest du dir wirklich die Z?hne ausgebissen“, kommentierte ihre Tante.

  Etienne sah müde zu ihr hinauf. ?Ich werde das Klavier nicht spielen.“

  ?Ist in Ordnung, Etienne Schatz, das musst du mir nicht erz?hlen.“

  Etienne presste die Lippen aufeinander. Die Art, wie Tatinne sie abwürgte, fühlte sich an, als wollte sie ein unn?tiges Gespr?ch vermeiden wollen… weil es sowieso so kommen sollte.

  ?Lass mich mal sehen“, sagte Tatinne und trat hinter sie. Sie nahm ihren Kopf in die H?nde und schob die Haare weg. Es tat weh. Als w?ren ihre Finger ganz nah, an offengelegtem Fleisch.

  ?Das ist nicht so schlimm. H?tte schlimmer sein k?nnen.“

  ?Wei?t du, was passiert ist?“, fragte Etienne.

  ?Nein, aber ich habe meine Vermutung.“

  ?Woher kennst du Mirtin?“

  ?Was, keine Fragen zu Raffael und wie du die Wette gewinnen kannst?“ Sie zupfte an ihrem Kopf und Etienne grunzte beim scharfen Schmerz, der ihren K?rper durchzuckte. ?Also wirklich, keine Ahnung, wann du das letzte Mal so demoliert ausgesehen hast.“

  ?Dafür hast du mich nicht oft genug gesehen“, konterte Etienne, ?Und ich m?chte wissen, ob du davon wusstest, dass Mirtin und all die anderen scheinbar hilflos aussehenden Schüler, Fluchweber sind.“

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  ?Sind sie das?“, fragte Tatinne nichtssagend.

  ?Ich hatte einen wirklich furchtbaren Tag“, flüsterte Etienne. Sie hatte keine Lust auf diese Spielchen, nicht mit ihrer Tante.

  Tatinne seufzte, ?ffnete den Korb und holte ihre Salben und Pflaster heraus. Dann gab sie Etienne eine Flasche Wasser und ein belegtes Brot. Etienne stürzte sich regelrecht darauf, ihr war nicht bewusst gewesen, wie hungrig sie eigentlich war. Dann sah sie Tatinne dabei zu, wie sie selbstgebackene Kekse hervorholte und sie dem Djinn gab, welcher sich ebenfalls mit dem denselben Eifer über das Essen hermachte, nur wahrscheinlich aus einem anderen Grund, als Hunger.

  ?Dass es sich bei ihnen um Fluchweber handelt, darüber war ich mir noch nicht g?nzlich sicher. Es gab hier und da ein paar Indizien, aber Rochell ist wirklich talentiert darin, ihre Spuren zu verwischen.“

  ?Wer ist das?“, fragte Etienne.

  ?Elias’ Mutter. Wenn es hier wirklich Fluchweber gibt, dann wird sie diejenige sein, welche sie kontrolliert.“

  ?Ich glaube, die eine oder andere Person ist nicht weit davon entfernt, zu einer Khrra’scha zu werden“, flüsterte Etienne.

  Tatinne schwieg. Ihre Finger trugen vorsichtig die Salbe an ihren Hinterkopf auf, nachdem sie die Wunde zuvor ges?ubert hatte.

  ?Das h?rt sich nicht gut an“, sagte sie dann schlie?lich, w?hrend sie ein Pflaster zurechtlegte und die kurze Behandlung schnell beendete. Etienne warf ihre Haare wieder über den Verband. Es fühlte sich unangenehm an und Etienne war sich sicher, eine Beule würde zu sehen sein. Eine Wunde mehr an ihrem K?rper.

  ?Du solltest es an die Magori aus Vheruna melden“, sagte Etienne.

  ?Und wann?“

  Etienne z?gerte. Tatinne l?chelte und setzte sich ihr gegenüber hin, verschr?nkte ihre Beine übereinander und sah so edel aus, wie sie sich wahrscheinlich fühlte. Sie zog ihre Pfeife hervor und zündete diese an. ?Auch was?“

  Ein herber Geruch breitete sich aus, welcher eine sü?liche Note mit sich trug. Etienne atmete es unweigerlich ein und konnte etwas Zitrusartiges riechen, aber sie wusste nicht, was es war.

  ?Nein.“

  ?Pass gut auf, Etienne Schatz. Es ist noch nicht notwendig, zu handeln. Vor allem, da sie wahrscheinlich sowieso meine Briefe durchlesen, wenn sie nach Au?en gerichtet sind. Sie gehen über ihre Provinz, wei?t du. Wie jeglicher anderer Kontakt zur Au?enwelt über die erste Provinz geht.“

  ?Erz?hle mir nicht, dass du nicht deine Wege hast, es ohne ihr Wissen zu tun.“

  Tatinne grinste breit, beantwortete ihr die Frage nicht.

  ?Lass nicht zu, dass sie dich verfluchen. Finde Verbündete. Die wirst du gegen diese kleinen M?chtegernweber brauchen.“

  ?M?chtegern… dir ist schon bewusst, dass wenn eine von denen zu einer Khrra’scha wird, diese ganze Stadt wahrscheinlich dem Erdboden gleichgemacht wird?“

  ?Ah, was, ich bin hier. Das passiert schon nicht.“

  ?Wissen sie, wo du herkommst?“, fragte Etienne.

  ?Nein“, erwiderte Tatinne süffisant, ?Dafür bin ich zu behütet aufgewachsen.“

  °?★?°∵.?.∵°?☆?°

  Etienne hatte aus dem Fenster beobachtet, wie weitere Schüler das Geb?ude verlassen haben. Tatinne hat sie in das Klassenzimmer verbannt und Mirtin war noch einmal aufgetaucht, nur Minuten nach ihrem Gespr?ch. Ihre ausgesprochene Verbannung in das Aufr?umen fühlte sich wie die trotzige Strafe eines Kindes an, welches nicht das bekommen hat, was es wollte. So hatte es Tatinne kommentiert und war dann verschwunden. Immerhin hatte sie ihr versichert, dass sie sich eine Pause g?nnen konnte, ohne zu befürchten, in dieser Zeit die Wette zu verlieren. Etienne hatte es nicht hinterfragt und die Verlockung nach einer Pause war zu gro?. Mit ihrem Djinn an ihrer Seite, welcher sich über das k?stliche Essen von Tatinne hergemacht und anschlie?end über Geschichten aus Vheruna getr?llert hat, von welchen sie ebenfalls nicht wusste, woher er sie hatte, war sie kurz entspannt in sich zusammengesackt. Aus dem Kurz wurden jedoch Stunden und nun war es dunkel drau?en und sie fühlte sich, als würde sie sich verstecken vor den schwarzen und den wei?en Tasten, welche eindeutig zu viele Leute ihr aufzwingen wollten.

  Es wunderte sie, dass sie noch nichts von Raffael geh?rt hat. Sie bezweifelte jedoch, dass sie gewonnen hat. Nun, in ihrem ersten ruhigen, ersch?pften Moment, fragte sie sich, ob sie nicht etwas zu voreilig gewesen war, sich auf diese Wette einzulassen. Erst recht, weil sie sich nicht mehr so ganz daran erinnern konnte, welche Worte genau am Vorabend gefallen waren. Ging sie bis zum Ende des Tages oder bis zum Ende dieser Veranstaltung? Etienne glaubte, dass es ersteres war. Ersch?pft legte sie die Stirn auf den Tisch. Wann war sie nur so emotional geworden? Etienne war sich sicher, dass sie vielleicht bis vor ein paar Jahren nicht so schnell aus ihrer erstarrten Ruhe geworfen werden konnte. Selten war ihr etwas auf die Nerven gegangen. Selten lie? sie sich so provozieren. Was war nur passiert? War es die Zeit mit ihrem kleinen Bruder gewesen? Oder waren es Katelin und ihre Schwester, welche viel früher den Keim der Emotionen in sie gelegt haben?

  Seufzend hob sie wieder den Kopf. Ihre schwarzen, viel zu langen Haare, hingen ihr ins Gesicht. Bald war es an der Zeit, sie abzuschneiden. Bis dahin musste sie ihre Ruhe wieder finden.

  Noch einige Stunden. Raffael würde weniger machen k?nnen, wenn seine Welt schlief. Dann würde ihre Welt seine verdr?ngen und Etienne konnte dann nahezu alles machen. Obwohl ihr die Augen zufallen wollten und ihr K?rper schmerzte und Etienne einfach nur in Tatinnes dunkles Zimmer in der obersten Etage ins Bett fallen wollte. Die Vorstellung, trotz allem am n?chsten Tag wieder hier auftauchen zu müssen, war ihr zuwider. Aber er würde den Stein mitbringen. Denn es gab kaum etwas, was er noch tun konnte. Die Veranstaltung war vorbei. Sie war noch immer Teil der neutralen Provinz. Was sollte er ihr befehlen? Welche Umst?nde seiner Welt konnte er sich so auslegen, dass sie verlieren würde?

  Ihr Djinn hatte sich zu einer kleinen Kugel an ihrem Scho? zusammengelegt und war eingeschlafen. Trotz dessen hatte Etienne keine Sorge, dass er sie nicht weiterhin beschützen würde.

  Etienne atmete tief durch und stand auf. Vorsichtig hob sie ihren Djinn auf die Arme. Er regte sich etwas, wand sich beim Versuch, eine gemütliche Position in ihren Armen zu finden, und schlief schlie?lich weiter.

  Etienne bedachte ihn, stellte fest, dass er wohl vorhatte weiterzuschlafen, und ging dann endlich aus diesem Klassenzimmer heraus. Die Lichter der Lampen fühlten sich unangenehm gelb an.

  Elektrizit?t, dachte sie und wenn sie nicht so müde w?re, w?re sie begeistert. Wahrscheinlich wurde auch hier alles durch Elektrizit?t bedient, wie das Gerüst der Bühne, von der Raffael ihr erz?hlt hat. Wenn sie gerade keine Feinde w?ren, dann würde sie ihn bitten, ihr mehr dazu zu erz?hlen. Dort, wo sie herkam, war Magie die Quelle von allem. Von jedem Ger?t, das bedient wurde, von jedem Lichtschein und jedem Mechanismus. Der ganze Gang wurde hier aber mit Elektrizit?t beleuchtet. Die Dunkelheit, welche auf den anderen Fenstern des Zimmers lauerte, fühlte sich bedrohlich an, dennoch w?re Etienne lieber da drau?en, als in diesem Licht, welches sie vom Farbton her an den Schein von Raffael erinnerte, als er ihren Talisman genutzt hat.

  Auch die Ungewissheit, was im Theatersaal auf sie warten würde, lie? sie nicht gerade ruhig werden. Sicherlich einige Mitglieder der neutralen Provinz, einige aus Raffaels Provinz. Sie fragte sich, ob Gilgian und Meta dort w?ren? Da einige Schüler, neben denen aus Elias’ Provinz, das Geb?ude bereits verlassen hatten, konnten nicht mehr viele hier sein.

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